IG Metall Pressemeldung Nr. 94/2003

http://www.igmetall.de/pressedienst/2003/094.html


21. Juli 2003 - IG Metall-Vorsitzender Klaus Zwickel tritt zurück

Frankfurt/Main - Der IG Metall-Vorsitzende Klaus Zwickel hat am Montag seinen Rücktritt erklärt. Die von Zwickel in Frankfurt am Main abgegebene Erklärung hat folgenden Wortlaut:

"In den vergangenen Tagen haben sich die Ereignisse überstürzt. Ich habe am Donnerstag, den 17. Juli, meine geplante Teilnahme an einer Veranstaltung der IG Metall in Rüsselsheim abgesagt, dann kurzfristig eine Pressekonferenz für vergangenen Freitag angesetzt und diese noch kurzfristiger wieder abgesagt.

Das ist sowohl bei einer Vielzahl engagierter Mitglieder und Funktionäre als auch bei Ihnen, meine Damen und Herren, zu Recht auf Unverständnis und in den Medien auf massive Kritik gestoßen. Ich möchte mich für dieses zunächst unverständliche Hin und Her in erster Linie bei den betroffenen Kolleginnen und Kollegen aber auch bei Ihnen ausdrücklich entschuldigen. Aber ich möchte auch hinzufügen: Dieses Chaos habe nicht ich verursacht, sondern jene, die nicht bereit sind, persönliche Konsequenzen aus einer schweren politischen Niederlage der IG Metall in ihrem Verantwortungsbereich zu tragen. Sie wissen, dass ich schon vor Wochen zu einem Rücktritt zusammen mit Jürgen Peters oder mit dem gesamten Vorstand bereit gewesen wäre. Ich wollte damit ein Signal setzen und deutlich machen: Hier wird politische Verantwortung übernommen; hier werden die Voraussetzungen für einen personellen Neuanfang geschaffen. Insofern schmerzt mich die Kritik, die Mitglieder an der jetzigen Situation üben, aber sie trifft mich nicht, da ich längst zu dem immer wieder geforderten Gesamtrücktritt des Vorstandes bereit war.

Dieses Hin und Her war folgendem Sachverhalt geschuldet: Ab Mittwoch vergangener Woche gab es noch intensive und vielfältige Gespräche, um aus der Krise der IG Metall durch einen glaubwürdigen politischen und personellen Neuanfang herauszukommen. Ich wollte den Erfolg dieser Gespräche möglich machen.

Heute muss ich definitiv feststellen, dass es einen solchen auch personellen Neuanfang, den ich für dringend notwendig halte und den ein großer Teil der engagierten Mitglieder und Funktionäre der IG Metall, die sich in den vergangenen Tagen und Wochen zu Wort gemeldet haben, mit Nachdruck wünschen, nicht geben wird.

Daher habe ich mich entschieden, mit sofortiger Wirkung als 1. Vorsitzender der IG Metall zurückzutreten.

Mit diesem Schritt übernehme ich ausdrücklich nicht die alleinige Verantwortung für die tarifpolitische Niederlage in der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie. Natürlich ist der Vorstand in seiner Gesamtheit für alle tarifpolitischen Fragen verantwortlich. Die Hauptverantwortung für den verlorenen Arbeitskampf tragen aber der für die Tarifpolitik verantwortliche
2. Vorsitzende und der Bezirksleiter von Berlin, Brandenburg und Sachsen. Sie haben, wie gesagt, zu keinem Zeitpunkt die geringste Bereitschaft gezeigt, persönliche Konsequenzen aus dieser politischen Verantwortung zu ziehen.

Die Gründe für meinen Rücktritt sind komplex:

Nach der Niederlage im Arbeitskampf in der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie ist die Diskussion über die künftige Führungsspitze der IG Metall erneut aufgebrochen. Sie ist nicht von mir, sondern von Bevollmächtigen der IG Metall und Betriebsräten in Ost- und Westdeutschland begonnen worden. Ich habe aber umgekehrt auch zu keinem Zeitpunkt etwas davon gehalten, die Niederlage zu beschönigen, wie manche jetzt in der Öffentlichkeit empfehlen, um die Debatte über politische und persönliche Konsequenzen abzuwürgen

Alle Versuche, auch durch personelle Konsequenzen deutlich zu machen, dass bei Anlage, Zeitpunkt und Ablauf dieser Tarifbewegung sorgfältiger auf die Risiken hingewiesen und diese Risiken auch vielfältiger hätten abgesichert werden müssen, sind gescheitert.

Öffentlich und auch in der IG Metall ist ein heftiger Streit um die Forderung nach einem personellen Neuanfang entbrannt. Die Mitglieder und Funktionäre der IG Metall beteiligen sich an dieser Debatte und formulieren ihre Anforderungen und Erwartungshaltungen. Und das ist gut so. Ich begrüße das Engagement der Basis ausdrücklich. Sie drängt völlig zu Recht auf Konsequenzen und einen personellen Neuanfang in der Führungsspitze.

Bei der Forderung nach einem Neuanfang geht es aber nicht nur um Personen. Es geht vielmehr um die künftige Politik der IG Metall. Es geht um die künftigen Schwerpunkte und Ziele der Arbeit der IG Metall. Und es geht für die 2,6 Millionen Mitglieder um die Frage, wie die Beteiligungs- und Führungsstrukturen der IG Metall künftig aussehen.

Viele Mitglieder und Funktionäre, unsere Vertrauensleute und unsere Betriebsräte spüren in der täglichen Arbeit, dass wir mit einer Politik des "Weiter so" immer weniger Arbeitnehmer erreichen. Vor allem Angestellte und junge Arbeitnehmer gewinnen wir so nicht. In der Anlage, dem Verlauf und dem Scheitern des Arbeitskampfes sind Probleme gleichsam wie in einem Brennglas deutlich geworden, die sich auch in anderen Handlungsfeldern der
IG Metall zeigen, worauf ich in den vergangenen drei Jahren bei vielen Gelegenheiten hingewiesen habe: Bei der Durchsetzung politischer und tarifpolitischer Forderungen müssen wir sowohl die Meinung der Gesamtheit unserer Mitglieder und der Arbeitnehmerschaft als auch die wirtschaftlichen Gegebenheiten und die gesellschaftliche Realität zur Kenntnis nehmen. Und wir müssen jeweils von Fall zu Fall klären, zu welchem Zeitpunkt und mit welchen Mitteln wir unsere Ziele angehen. Ich sage deutlich: Die IG Metall muss in der Wirklichkeit ankommen, nicht um sich anzupassen, sondern um sie wirksam beeinflussen und verändern zu können. Das war das zentrale Thema unserer Zukunftsdebatte. Davon wird auch der künftige Erfolg der IG Metall abhängen.

Andere halten daran fest, dass gerade unter schwierigen Rahmenbedingungen kein Zweifel an der gewerkschaftlichen Entschlossenheit und den bisherigen Zielsetzungen aufkommen dürfe. Auch dann nicht, wenn die aktuellen Erfahrungen wie zum Beispiel beim Widerstand gegen die Agenda 2010 und die tarifpolitische Niederlage in Ostdeutschland dagegen sprechen.

In dieser Situation wurde ein personeller Neuanfang gefordert und schließlich wurden auch Gegenkandidaturen für die Wahl des künftigen Vorsitzenden der IG Metall diskutiert und gefordert, nachdem der 2. Vorsitzende immer wieder betonte, dass er auf jeden Fall für die Funktion des 1. Vorsitzenden kandidieren werde. Dahinter steht der berechtigte Wunsch, in einer offenen Diskussion eine demokratische Mehrheitsentscheidung auf dem Gewerkschaftstag zu treffen.

Zwischenzeitlich habe ich Kenntnis davon, dass dieser Weg nicht weiter verfolgt wird. Vielmehr soll dem Vorstand und den Delegierten des Gewerkschaftstages jetzt doch wieder die "Tandemlösung" vorgeschlagen werden, auf die sich der Vorstand im April in Dresden verständigt hatte.

Nach den heftigen Diskussionen der vergangenen Wochen und den vielfachen Forderungen nach einem personellen Neuanfang kann ich diese Entwicklung nicht mehr mittragen. Ich bin überzeugt, dass sie bei vielen engagierten Mitgliedern Verärgerung und in der Öffentlichkeit Unverständnis auslösen wird.

Mit diesem Salto mortale werden viele Mitglieder und Funktionäre, viele Vertrauensleute und Betriebsräte nicht einverstanden sein.

Nach knapp zehn Jahren an der Spitze der IG Metall scheide ich damit als 1. Vorsitzender aus. Ich habe diese wichtige Funktion unter schwierigen Rahmenbedingungen ausgefüllt.

In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Welt stärker verändert als in mehreren Jahrzehnten zuvor. Bis Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre ging es in Deutschland fast immer bergauf. Die vergangenen zehn Jahre waren demgegenüber nicht mehr durch den Aufbau neuer Arbeitsplätze, sondern den massiven Abbau von Arbeitsplätzen gekennzeichnet - insbesondere im Osten. Parallel dazu gab es deutliche Mitgliederverluste für die
IG Metall. Die deutsche Wiedervereinigung und die Globalisierung haben die wirtschaftlichen Gegebenheiten und damit die Rahmenbedingungen politischen und gewerkschaftlichen Handelns nachhaltig verändert.

Die Situation in den Betrieben war während dieser Zeit durch weitreichende Umstrukturierungen gekennzeichnet. Die Zahl der klassischen Industriearbeitsplätze nahm ab. Die Zahl der Arbeitsplätze in industrienahen Dienstleistungsbereichen und in den Bereichen Forschung und Entwicklung, Marketing und Vertrieb nahm zu.

Hinzu kommt: Statt sozialpolitischer Verbesserungen - wie in den Jahren zuvor - standen verschärfte Auseinandersetzungen um den Abbau von Sozialleistungen und Arbeitnehmerrechten auf der Tagesordnung. Mit dem Bündnis für Arbeit habe ich 1995 den Versuch gemacht, ein neues Modell des Geben und Nehmen zwischen Politik, Arbeitgebern und Gewerkschaften auf den Weg zu bringen. Doch weder die Arbeitgeber noch die Politik haben die Kraft gefunden, solch ein Bündnis zum Erfolg zu führen. Zum Teil hat auch uns als Gewerkschaften der nachhaltige Wille gefehlt, ein solches Politikmodell zum Erfolg zu bringen.
Dennoch ist es uns, ist es der IG Metall gelungen, die Interessen unserer Mitglieder in vielen Bereichen erfolgreich zu vertreten.

Wir haben in vielen Fällen sowohl den Abbau von Arbeitsplätzen als auch den Abbau von Sozialleistungen und von Arbeitnehmerrechten verhindert oder zumindest abgeschwächt. Wir haben Arbeitnehmern, die ihren Arbeitsplatz verloren haben, neue Perspektiven geschaffen. Wir haben gerade in den neuen Bundesländern mit großem Engagement und viel Phantasie das Konzept der Qualifizierungs- und Beschäftigungsgesellschaften entwickelt und umgesetzt, um zumindest die negativen Folgen des gigantischen Umbaus abzumildern. Und ich erinnere an die Großdemonstration gegen den Sozialabbau 1996 als Folge des von der Regierung Kohl abgelehnten Bündnisses für Arbeit.

Wir haben im zurückliegenden Jahrzehnt eine erfolgreiche Tarifpolitik gemacht. Ich will dazu nur auf den jüngsten Tarifabschluss verweisen - den gemeinsamen Entgelttarifvertrag für Arbeiter und Angestellte. Dieses Projekt haben wir unter dem Titel "Tarifreform 2000" bereits Ende der 80er Jahre entwickelt und 1990 veröffentlicht. Damals war ich im Vorstand der
IG Metall noch für Tarifpolitik verantwortlich. Jetzt haben wir dieses Jahrhundert-Projekt erfolgreich abgeschlossen und endlich gleiche Arbeits- und Einkommensbedingungen für alle Arbeitnehmer, sowohl für Arbeiter als auch für Angestellte durchgesetzt. Und ich erinnere auch an den erfolgreichen Streik im Jahr 1993 für einen neuen Stufenplan zur Angleichung der Löhne und Gehälter in der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie. Damals haben wir zur Lösung des Tarifkonflikts neue, für die IG Metall nicht einfache Instrumente entwickelt, zum Beispiel die Härtefallklausel.

Ich habe den Umbau der IG Metall in den vergangenen Jahren mit großem Nachdruck vorangetrieben. Wir haben künftig nicht mehr zehn, sondern nur noch sieben geschäftsführende Vorstandsmitglieder. Wir haben die früher in einer Vielzahl von kleinen Abteilungen in der Vorstandsverwaltung zersplitterten Zuständigkeiten in größeren Funktionsbereichen zusammengefasst. Damit haben wir effektivere Arbeitsabläufe erreicht und die interne Zusammenarbeit verbessert.

Mit der Gewerkschaft Textil - Bekleidung und der Gewerkschaft Holz und Kunststoff haben wir zwei früher eigenständige Gewerkschaften erfolgreich in die IG Metall integriert. Die Textiler und die "Holzwürmer" fühlen sich heute pudelwohl bei uns.

Ich möchte noch ein weiteres wichtiges Projekt in Erinnerung rufen: die Zukunftsdebatte, die wir in den vergangenen drei Jahren geführt haben. Ziel dieser Debatte war es, Türen und Fenster der IG Metall weit zu öffnen - für frischen Wind und für neue Ideen. Das Ergebnis dieser Debatte haben wir im November vergangenen Jahres vorgelegt. Es kann sich sehen lassen. Wir haben sowohl unsere Anforderungen an die Politik formuliert als auch neue Ziele gewerkschaftlichen Handelns zur Diskussion gestellt. Unser Fazit: Die IG Metall muss die neue Vielfalt der Lebensentwürfe, die Pluralität der Arbeitsverhältnisse und auch die unterschiedlichen betrieblichen Bedingungen sowohl in ihrer Tarifpolitik als auch in ihrer Betriebsarbeit und ihrer Organisationspolitik stärker als bisher beachten. In der Arbeitszeitpolitik - so ein weiteres Ergebnis der Zukunftsdebatte - kommt es vor allem darauf an, die Vielfalt der Arbeitszeiten und der Arbeitsverhältnisse zu gestalten. "Erzwungene Flexibilität" müsse eingegrenzt und gewollte Vielfalt ermöglicht werden.

Oftmals war ich in den vergangenen Jahren die einzige laute Stimme - sowohl der IG Metall als auch der Gewerkschaften, sowohl wenn es darum ging, den notwendigen Widerstand gegen bestimmte Entwicklungen zu organisieren als auch wenn es darum ging, entschiedene Änderungsbereitschaft zu dokumentieren. Manches mag widersprüchlich erschienen sein. Mein Ziel war immer, möglichst viele in der IG Metall mitzunehmen und den notwendigen Wandel gemeinsam zu organisieren. Manchmal war meine Stimme sicher zu laut. Sie war aber niemals persönlich verletzend.

Mit dem Amt des 1. Vorsitzenden der IG Metall, mit der Macht verantwortlich umzugehen war stets meine Prämisse.

Dass unter den geschilderten Rahmenbedingungen nicht alles gelingt, kann nur von solchen Zeitgenossen überheblich kritisiert werden, die selbst keine Verantwortung für Entscheidungen haben. Für die IG Metall zählt, was wir gemeinsam erreicht haben, was auf den Weg gebracht worden ist. Und nicht das, was sich als nicht erreichbar herausgestellt hat.

Da gilt der Spruch, an den mich heute Morgen ein Kollege erinnert hat:

"Wer sein Leben so einrichtet, dass er niemals auf die Schnauze fallen kann, der kann nur auf dem Bauch kriechen."

Ich selbst habe jedenfalls großen Respekt von vielen Mitgliedern und Funktionären, von vielen Vertrauensleuten und Betriebsräten und in vielen Verwaltungsstellen und Bezirken der
IG Metall erfahren. Dazu gehört auch, dass ich meinen Gesprächspartnern, den Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden, aber auch anders Denkenden, stets meinen Respekt gezeigt habe.
Ich danke allen Mitgliedern und Funktionären der IG Metall, den Vorstandsmitgliedern, den Kolleginnen und Kollegen im Deutschen Gewerkschaftsbund und allen DGB-Gewerkschaften sowie meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für ihr Engagement und ihre Unterstützung.

Zwei Persönlichkeiten möchte ich heute besonders erwähnen: Zunächst meinen Parteivorsitzenden, Bundeskanzler Gerhard Schröder. Zwischen dem Bundeskanzler und mir gab es - das wissen Sie - teilweise durchaus unterschiedliche Einschätzungen und manchmal auch Konflikte. Dennoch sind wir stets offen und fair miteinander umgegangen und haben konstruktiv zusammen gearbeitet. Dafür danke ich dem Bundeskanzler.

Auch die Zusammenarbeit mit dem Präsidenten des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, Martin Kannegiesser, war trotz unterschiedlicher Aufgaben und Interessen stets fair und konstruktiv. Ich danke Herrn Kannegiesser insbesondere für sein Engagement zur Sicherung des Flächentarifvertrages."