NEUE EINHEIT Extrablatt Nr.25 vom 7.04.1996 Am 26.April jährt sich zum zehnten Male die Tschernobyl-Katastrophe.
Wieder werden zahlreiche Gedenkartikel erscheinen und es werden Demonstrationen
stattfinden. Gerade die Hintergründe jener Katastrophe aber, die wenigstens
zu einem erheblichen Teil offenliegen, werden dort nicht behandelt werden.
Wir halten es für notwendig, daß gerade diese Punkte in die Öffentlichkeit
getragen werden, die unweigerlich auch ein wesentliches Licht auf die
Anti-Atom-Bewegung und die gesamte grüne Kampagne, schon allein durch
ihre Offenlegung werfen. Dieser Vorfall, diese Katastrophe wurde faktisch
sofort von der gesamten grünen Bewegung und von allen parlamentarischen
Parteien genutzt, die "sofortige Stillegung" der Kernenergie in der
Bundesrepublik zu fordern. Diesen Zusammenhang zwischen einer Kernkraftwerkskatastrophe
im Ausland, in diesem Fall in der Sowjetunion, und einer besonders schwergewichtigen
Kampagne in diesem Land gilt es in der Tat zu beleuchten. Dazu ist unter
anderem die Veröffentlichung der Hintergründe äußerst dienlich. Wir
fordern unmißverständlich, daß die faktische Unterschlagung dieser Hintergründe
in der Öffentlichkeit ein Ende hat. Noch im gleichen Jahre 1986 erscheinen sowohl ein sowjetischer Bericht
über die technischen Einzelheiten als auch Publikationen der IAEO und
der Gesellschaft für Reaktorsicherheit. Außer kurzzeitiger Erwähnung
der hauptsächlichen Resultate in einigen namhaften Zeitungen werden
diese nicht in der Öffentlichkeit behandelt, insbesondere nicht in den
Medien, die für die breite Öffentlichkeit entscheidend sind. Wir gehen
deshalb auf den russischen Bericht und seine Besonderheiten hier ein.
Schon damals, im Sommer 86, wurde deutlich, daß die Sicherungssysteme
des Reaktors im Rahmen von Versuchen außer Kraft gesetzt wurden und
eine massive Manipulation des Reaktors erfolgt war, was seinerseits
viele Fragen aufwarf.
Der Bericht selbst enthält eine Abfolge krassester Eingriffe in den Reaktor, systematischer Beiseiteschiebung aller vorgesehenen Sicherheitseinrichtungen, so daß man sich fragen muß, was sich die Operatoren dabei gedacht haben, als sie den Reaktor in dieser Weise manipulierten und mit ihm gleich einem Spielzeug die waghalsigsten "Versuche" betrieben. Der Bericht schildert auf der einen Seite zahlreiche Einzelheiten des technischen Vorgangs in dieser Weise, um dann das Geschehen mit den völlig unpassenden und abwiegelnden Begriffen von "Bedienungsfehler" oder "Verletzung von Bedienungsvorschriften" zusammenzufassen und damit alle entscheidenden Fragestellungen zu umgehen. Die IEAO, für die dieser Bericht geschrieben wurde, ist übrigens ein Organ des sog. Atomwaffensperrvertrages und deckt als solche wie selbstverständlich die atomare Hegemonie der damaligen zwei "Supermächte", die beinhaltet, daß die atomaren Vormächte alle übrigen Länder kontrollieren dürfen, aber umgekehrt nicht. Zahlreiche Fragen, nach der Verantwortlichkeit dieses Unglücks, nach der Herkunft von Explosionen am Reaktor, bleiben in diesem Bericht und in den Ausführungen der IAEO und der Gesellschaft für Reaktorsicherheit unbeantwortet oder werden allenfalls mit vagen Hypothesen abgespeist. Der Reaktor wurde bewußt in eine extrem gefährliche, und zwar in ihrer Gefährlichkeit bekannte Situation gefahren, und dann wurden obendrein alle Sicherungsmechanismen außer Kraft gesetzt, angeblich um diesen Versuch durchzuführen, obwohl der Bericht auch noch erklärt, daß zumindest einige dieser Ausschaltungen von Sicherungsmechanismen gar nicht für diesen Versuch notwendig waren. Man mußte unter solchen Bedingungen auch nach damaliger Kenntnis wissen, daß man den Reaktor in eine gefährliche Lage exponierte, von der aus unbekannte Großkatastrophen wahrscheinlich wurden. Nichts, aber auch gar nichts hat diese Katastrophe etwa mit rein statistisch möglichem, extrem unwahrscheinlichen Zusammenfallen unglücklicher Zufälle zu tun. Im Gegenteil, was dort betrieben wurde, mußte direkt zu einer Havarie führen, genauso wie, wollte man mit einem Pkw mit 220 Km/h um eine 90 Grad Ecke fahren, das sehr wahrscheinlich auch zum Heraustragen des Fahrzeugs aus der Fahrbahn führte. Seitenweise liest sich der Bericht so: hier wurde diese verbotene Sache
unternommen und gezielt jene Vorschriften verletzt, und damit der Versuch
überhaupt möglich wurde, wurde erst dieses und dann jenes Sicherheitssystem
außer Kraft gesetzt. Danach wird der Sicherungsmechanismus für den Fall, daß kein Turbogenerator mehr zur Verfügung steht, abgeschaltet. Es heißt: Weiter heißt es: 176 Personen befanden sich im gesamten Kraftwerk, davon eine Reihe im betroffenen Reaktorblock 4. Nach den damaligen sowjetischen Angaben müßte der größte Teil dieser Besetzung das Unglück überlebt haben. Zugleich soll aber die Explosion aus dem Inneren heraus eine 1000t schwere Platte umgeworfen haben. Wie können Menschen eine solche Explosion im Inneren überleben? Zu den Unfallursachen heißt es in dem sowjetischen Bericht: Und gerade diese Schutzeinrichtungen wurden außer Kraft gesetzt. Die Reaktorblöcke 1 und 2 in unmittelbarer Nähe des Reaktors 4 arbeiten noch am Tage der Katastrophe 24 Stunden weiter!!! Auch diese Darstellung zeigt übrigens, daß die Propaganda, wie sie hier lief, wenngleich diese Katastrophe schwerwiegend war, beabsichtigte, daraus eine regelrecht mystische Angelegenheit zu machen, in der Absicht, generelle Furcht vor der großen Technik zu erzeugen. Dies hat mit einer realistischen Einschätzung nichts zu tun. Das ist prinzipielle propagandistische Absicht, die all denen zugute kommt, die die Deindustrialisierung vorangetrieben haben und die die Verunsicherung gegenüber den materiellen Grundlagen der Gesellschaft betreiben. Der Bericht der damaligen politischen Verantwortlichen der Sowjetunion hält auch nicht ganz hinter dem Berg, was er politisch zu schlußfolgern gedenkt: Und dann erklärt Gorbatschow, unter dem die USA einen entscheidenden Einfluß in der Sowjetunion selbst gewannen, daß man anläßlich Tschernobyl enger mit der IEAO zusammenarbeiten solle, die wohl insgesamt die atomare Industrie, auch die russische, international enger kontrollieren solle.
Ebenfalls existiert im Anschluß an diesen Bericht eine ausführliche Darstellung der Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) "Neuere Erkenntnisse zum Unfall im Kernkraftwerk Tschernobyl. Stand: Oktober 1986" Auch hier können die frappierenden Umstände nicht verschwiegen werden. Aber man versucht auch hier, das Ganze einfach unter der Rubrik "menschliches Versagen", unter "Verstoß von Betriebsvorschriften" einzuordnen. Man bemüht die Psychologie: die Mannschaft habe großen Ehrgeiz besessen
und habe diesen Versuch in größerer Geschwindigkeit durchführen wollen.
Andere wesentliche Fragen, nach dem politischen Kontext, in den die
Sowjetunion selbst diese Sache stellen wollte, Fragen nach der Verantwortlichkeit
dieses bar jeder Verantwortung betriebenen "Versuchsprogramms" an dem
Reaktor, stellt man offensichtlich nicht. Unter Wegstreichung aller dieser Punkte heißt es dann lediglich: Es heißt dann in dem Bericht der GRS: Im Zusammenhang mit dem Jahrestag von Tschernobyl werden wieder Demonstrationen stattfinden, mit faktischer Unterstützung der öffentlichen Medien, die die altbekannten Forderungen aufstellen und die altbekannte Litanei über die Unvermeidlickeit derartiger "Unfälle" aufstellen, und rücksichtslos und ohne Erbarmen die Stillegung aller Kernkraftwerke fordern. Achten Sie einmal darauf, ob hier in diesem Land oder im Ausland auch nur einmal auf diese frappierenden Umstände dieser Katastrophe eingegangen wird. Damit ist nicht wesentlich zu rechnen. Im Gegenteil, sie werden verschwiegen werden. Am 10. Oktober 1986 gab unsere Gruppe seinerzeit ein Flugblatt mit dem Titel "Die Veröffentlichung des Tschernobyl-Berichts" nach längerer Vorbereitung heraus, das auf die Hintergründe, soweit damals bekannt, einging. Bis zu diesem Zeitpunkt nahm die Tschernobyl-Propaganda einen wesentlichen Teil in den Medien ein. Leider hatten wir dann den Nachteil, daß von diesem Vorstoß durch einen Anschlag der sog. RAF auf einen Diplomaten noch in den Abendstunden des gleichen Tages abgelenkt wurde, eine Erfahrung, die wir schon bei ähnlichen aufklärerischen Vorstößen in früheren Jahren gemacht haben. Es muß in diesem Zusammenhang auch auf den Vergleich mit westlichen Reaktoren, namentlich in Deutschland, eingegangen werden. Richtig ist, daß eine Katastrophe wie in Tschernobyl, in der gleichen technischen Art, auf Grund der ganz anderen Bauweise der Siedewasser- und Druckwasser-Reaktoren nicht möglich ist. Außerdem sind diese Reaktoren auch gegen Eingriffe erheblich anders abgesichert. Aber prinzipiell gilt: wenn Leute in einer Betreibergruppe oder in einer Belegschaft oder deren Leitung etwas verursachen wollen, dann kann man zwar ein Werk relativ dagegen absichern, aber eine absolute Sicherheit kann es dagegen nicht geben. Als Gegenmaßnahme kann man nicht auf Reaktoren verzichten, die Betreffenden können auch chemische Werke oder militärische Anlagen in die Luft gehen lassen oder mit Gentechnik Katastrophen herbeiführen. Man muß derartige Gefahren gesellschaftlich bekämpfen, es ist die Frage, welche gesellschaftliche Kontrolle über derartige Bereiche erhoben wird. Man erinnere sich auch daran, daß in den Medien der Bundesrepublik wie in denen der USA ein Mann wie Dudajew gefeiert wird, der schon im Jahre 1991 mit Angriffen auf Kernkraftwerke drohte, wenn Rußland seinen Forderungen nach "Unabhängigkeit" seiner Kaukasusrepublik nicht stattgibt. Die mangelnde politische Hinterfragung der ganzen Angelegenheit ist nicht zufällig bei der IEAO, die ein Organ ist, das die Kontrolle der Atomenergie im Interesse einiger weniger Mächte, damals der USA und der Sowjetunion, ausübt. In diesem Kontext der Frage der Hegemonie der atomaren Technik ist aber auch der gesamte Rahmen der politischen Kampagne, die auf Tschernobyl folgte, zu sehen. Daß ein Sturm, angefeuert durch die öffentlichen Medien in der Bundesrepublik, auf sofortige Abschaltung der Kernenergie hierzulande drängte, ist selbst eine beredte Sache. Schließlich ist aber auch klar geworden, daß eine derartige komplexe Technik, die hohe Sicherheitsanforderungen stellt, auch eine entsprechende gesellschaftliche Grundlage benötigt. Man kann nicht menschlich, sittlich auf einem rückständigen Niveau leben, ja sogar Zersetzung in der Gesellschaft betreiben und gleichzeitig eine hochkomplexe und mit enormen Energiemassen operierende Technik betreiben. Aus all dem folgt in der Tat die Notwendigkeit der gesellschaftlichen Umgestaltung, aber die Demontage der Technik ist ein Weg in die falsche Richtung. Das Gleiche gilt auch für die anderen revolutionären Techniken wie die Gentechnik, die Computervernetzung der gesamten Menschheit, die in vollem Gange ist. Einigen Menschen erscheint diese Technik auch als unheimlich, da sie ihnen nicht mehr durchschaubar ist. Letztlich setzt die erfolgreiche Bewältigung einer solchen Technik auch eine solche sittliche Grundlage voraus, daß die Gesellschaft von sich selbst sagen kann: sie will die Natur in dieser Weise beherrschen, sie hat einen solchen Stand erreicht, daß sie auf dieser Ebene die weitere Umgestaltung der Natur betreiben kann. Hinter dem teilweisen Erfolg dieser antiindustriellen Kampagne liegt auch ein gesellschaftliches Problem. Sie nutzt alle Rückständigkeit in der Gesellschaft aus, versucht die Abneigung gegen die Naturwissenschaften zu vertiefen und greift die Zivilisation an einer empfindlichen Stelle an. Man darf nicht vergessen, daß die Technik als unweigerlich zweischneidige Sache sehr oft auch zur Unterdrückung mißbraucht wurde. Wir sehen, daß die Frage der Vergesellschaftung der Produktivkräfte, letztlich die Frage des Sozialismus, weiter akut ist. All dies zeigt, daß die Behandlung der gesellschaftlichen Grundlagen -die Diskussion, wie sich die Frage des gesellschaftlichen Eigentums und des privaten Eigentums und die Frage der Sittlichkeit in der Gesellschaft verhalten- als die hauptsächlich zu behandelnde Frage weitergeführt werden muß. Die Frage der Kernenergie ist nicht die erste Frage in der Gesellschaft, gleichwohl sich ganz Wesentliches der Naturanschauung und der Herangehensweise mit ihr verbindet. Aber es ist notwendig zu verdeutlichen, daß die Behandlung der Katastrophe von Tschernobyl nicht ohne die geschilderten frappierenden Umstände behandelt werden kann. Wir begrüßen es, wenn der Tschernobylereignisse gedacht wird, allerdings darf das Wichtigste dabei nicht außer Acht gelassen werden. Ohne dies ist es nur Irreführung und Heuchelei. K.S. 7.4.96 Zitatnachweis und Literaturhinweis Anmerkungen [1] [2] [3] [4] [5] [6] zurück zum Text Staatskomitee für Nutzung der Kernenergie der UdSSR: Der Unfall in dem Kernkraftwerk von Tschernobyl und seine Folgen Eine für die Expertenkonferenz der IAEO vorbereitete
Information (25. - 29. August 1986 in Wien); (Übersetzung aus dem Russischen durch den Bundesminister
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit)
Anmerkungen [7] [8] [9] [10]
zurück zum Text Neuere Erkenntnisse zum Unfall im Kernkraftwerk Tschernobyl
Stand: Oktober 1986; (2. Auflage Februar 1987) ISBN 3-923875-13-4
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