NEUE EINHEIT Extrablatt Nr.25 vom 7.04.1996


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10. Jahrestag der Tschernobyl - Katastrophe:
Die entscheidenden Fakten gehören endlich
in die Öffentlichkeit
 

Am 26.April jährt sich zum zehnten Male die Tschernobyl-Katastrophe. Wieder werden zahlreiche Gedenkartikel erscheinen und es werden Demonstrationen stattfinden. Gerade die Hintergründe jener Katastrophe aber, die wenigstens zu einem erheblichen Teil offenliegen, werden dort nicht behandelt werden. Wir halten es für notwendig, daß gerade diese Punkte in die Öffentlichkeit getragen werden, die unweigerlich auch ein wesentliches Licht auf die Anti-Atom-Bewegung und die gesamte grüne Kampagne, schon allein durch ihre Offenlegung werfen. Dieser Vorfall, diese Katastrophe wurde faktisch sofort von der gesamten grünen Bewegung und von allen parlamentarischen Parteien genutzt, die "sofortige Stillegung" der Kernenergie in der Bundesrepublik zu fordern. Diesen Zusammenhang zwischen einer Kernkraftwerkskatastrophe im Ausland, in diesem Fall in der Sowjetunion, und einer besonders schwergewichtigen Kampagne in diesem Land gilt es in der Tat zu beleuchten. Dazu ist unter anderem die Veröffentlichung der Hintergründe äußerst dienlich. Wir fordern unmißverständlich, daß die faktische Unterschlagung dieser Hintergründe in der Öffentlichkeit ein Ende hat.
 

Noch im gleichen Jahre 1986 erscheinen sowohl ein sowjetischer Bericht über die technischen Einzelheiten als auch Publikationen der IAEO und der Gesellschaft für Reaktorsicherheit. Außer kurzzeitiger Erwähnung der hauptsächlichen Resultate in einigen namhaften Zeitungen werden diese nicht in der Öffentlichkeit behandelt, insbesondere nicht in den Medien, die für die breite Öffentlichkeit entscheidend sind. Wir gehen deshalb auf den russischen Bericht und seine Besonderheiten hier ein. Schon damals, im Sommer 86, wurde deutlich, daß die Sicherungssysteme des Reaktors im Rahmen von Versuchen außer Kraft gesetzt wurden und eine massive Manipulation des Reaktors erfolgt war, was seinerseits viele Fragen aufwarf.
 

 

Der Bericht des sowjetischen Staatskomitees
 

Der Bericht selbst enthält eine Abfolge krassester Eingriffe in den Reaktor, systematischer Beiseiteschiebung aller vorgesehenen Sicherheitseinrichtungen, so daß man sich fragen muß, was sich die Operatoren dabei gedacht haben, als sie den Reaktor in dieser Weise manipulierten und mit ihm gleich einem Spielzeug die waghalsigsten "Versuche" betrieben. Der Bericht schildert auf der einen Seite zahlreiche Einzelheiten des technischen Vorgangs in dieser Weise, um dann das Geschehen mit den völlig unpassenden und abwiegelnden Begriffen von "Bedienungsfehler" oder "Verletzung von Bedienungsvorschriften" zusammenzufassen und damit alle entscheidenden Fragestellungen zu umgehen. Die IEAO, für die dieser Bericht geschrieben wurde, ist übrigens ein Organ des sog. Atomwaffensperrvertrages und deckt als solche wie selbstverständlich die atomare Hegemonie der damaligen zwei "Supermächte", die beinhaltet, daß die atomaren Vormächte alle übrigen Länder kontrollieren dürfen, aber umgekehrt nicht.

Zahlreiche Fragen, nach der Verantwortlichkeit dieses Unglücks, nach der Herkunft von Explosionen am Reaktor, bleiben in diesem Bericht und in den Ausführungen der IAEO und der Gesellschaft für Reaktorsicherheit unbeantwortet oder werden allenfalls mit vagen Hypothesen abgespeist.

Der Reaktor wurde bewußt in eine extrem gefährliche, und zwar in ihrer Gefährlichkeit bekannte Situation gefahren, und dann wurden obendrein alle Sicherungsmechanismen außer Kraft gesetzt, angeblich um diesen Versuch durchzuführen, obwohl der Bericht auch noch erklärt, daß zumindest einige dieser Ausschaltungen von Sicherungsmechanismen gar nicht für diesen Versuch notwendig waren. Man mußte unter solchen Bedingungen auch nach damaliger Kenntnis wissen, daß man den Reaktor in eine gefährliche Lage exponierte, von der aus unbekannte Großkatastrophen wahrscheinlich wurden. Nichts, aber auch gar nichts hat diese Katastrophe etwa mit rein statistisch möglichem, extrem unwahrscheinlichen Zusammenfallen unglücklicher Zufälle zu tun. Im Gegenteil, was dort betrieben wurde, mußte direkt zu einer Havarie führen, genauso wie, wollte man mit einem Pkw mit 220 Km/h um eine 90 Grad Ecke fahren, das sehr wahrscheinlich auch zum Heraustragen des Fahrzeugs aus der Fahrbahn führte.

Seitenweise liest sich der Bericht so: hier wurde diese verbotene Sache unternommen und gezielt jene Vorschriften verletzt, und damit der Versuch überhaupt möglich wurde, wurde erst dieses und dann jenes Sicherheitssystem außer Kraft gesetzt.
Anlaß des Desasters war ein angeblicher Versuch, am Reaktor den Strom der auslaufenden Turbine für den Eigenbedarf zu nutzen. Es ist zunächst einmal überhaupt erstaunlich, daß ein solcher Reaktor, voll bestückt mit radioaktiven Brennstäben, angeblich von der Belegschaft als einfaches "Versuchsobjekt" benutzt wird. Normalerweise wird Derartiges erst einmal an Versuchsapparaten getestet.
Der Bericht schiebt alles auf das Personal, auf dessen Leichtfertigkeit. Gleichzeitig geht aber aus dem Bericht auch hervor, daß dem Versuch ein Leiter vorstand, der kein Reaktorfachman war, sondern nur ein "einfacher Elektroingenieur", der offenbar der anwesenden Personalschicht seine Anweisungen erteilte.

Es heißt zum Beispiel:

"Die Operateure versuchten, im Handbetrieb die wichtigsten Parameter des Reaktors aufrecht zu erhalten: den Dampfdruck und den Wasserstand in den Dampfabscheidern jedoch gelang es nicht, dies in vollem Umfang zur erreichen. In diesem Zeitraum wurden Abnahmen des Dampfdrucks bis zu O,5-O,6 MPa und Absinken des Wasserstands bis unterhalb des Schutzgrenzwertes beobachtet. Um ein Abschalten des Reaktors unter diesen Bedingungen zu vermeiden, wurden durch das Personal die Signale des Notfallschutzes für diese Parameter blockiert. Zwischenzeitlich setzte sich das Absinken der Reaktivität des Reaktors langsam fort. Um 1h 22 Min 30 Sekunden sah der Operateur durch einen Ausdruck des Programms für die schnelle Reaktivitätsüberwachung, daß die Reaktivitätsreserve eine Größenordnung hatte, die ein unverzügliches Abschalten des Reaktors erfordert. Trotzdem ließ sich das Personal nicht abhalten, und die Versuche begannen."(S. 22/23)   [ 1 ]Diese Sätze muß man sich in der Tat zweimal durchlesen, zeigen sie doch die ganze Gezieltheit des Vorgehens. Wer hat eine derartige rücksichtslose Vorgehensweise an dem Reaktor angeordnet? Jener Ingenieur, der gar nicht Reaktorfachmann war? Über diese Verantwortlichkeit schweigt der Bericht sich aus.

Danach wird der Sicherungsmechanismus für den Fall, daß kein Turbogenerator mehr zur Verfügung steht, abgeschaltet.

Es heißt:

"Hierdurch wurde ein weiteres Mal von dem Versuchsprogramm abgewichen, in welchem ein Unscharfmachen des Schutzsignals bei Abschalten der beiden Turbogeneratoren nicht vorgesehen war." (S.23)   [ 2 ]
 
Kurz nach 1h 23 wächst die Reaktivität der Brennmasse plötzlich in dem hochgradig manipulierten und gewaltsam heruntergefahrenen Reaktor massiv an. Der Operateur versucht eine Notfallabschaltung, die aber - so der Bericht - mißlingt.

Weiter heißt es:

"Nach Angaben von Augenzeugen, die sich außerhalb des vierten Blocks befanden, waren ungefähr um 1h 24 Min zwei Explosionen zu hören, über dem vierten Block flogen heiße Stücke und Funken in die Höhe, von denen ein Teil auf das Dach der Maschinenhalle fiel und einen Brand verursachte." (S.23)   [ 3 ]
 
Später versucht man sich diese Explosionen anhand von einem mathematischen Rechenmodell zu erklären, aber sie werden nirgendwo wirklich schlüssig erklärt. Mathematische Modelle haben nur einen begrenzten Aussagewert und dienen normalerweise dazu, einen auf die Spur zur Ermittlung der Ergebnisse zu führen. Eine Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt und die auch der Ermittlung über die Hintergründe dieser Katastrophe etwas aufzeigen könnte, besteht darin: Wurde, bevor man daran ging, offensichtlich den Reaktor planmäßig zu manipulieren, ein Rechenmodell über die Auswirkungen erstellt? Das wäre doch eigentlich logisch. Wenn man über derartige Verfahren einer rechnerischen Simulation verfügt, warum sie dann nicht bei solchen gefährlichen Vorgängen vorher anwenden? Wenn sie aber existierte, was sagte sie aus?

176 Personen befanden sich im gesamten Kraftwerk, davon eine Reihe im betroffenen Reaktorblock 4. Nach den damaligen sowjetischen Angaben müßte der größte Teil dieser Besetzung das Unglück überlebt haben. Zugleich soll aber die Explosion aus dem Inneren heraus eine 1000t schwere Platte umgeworfen haben. Wie können Menschen eine solche Explosion im Inneren überleben?

Zu den Unfallursachen heißt es in dem sowjetischen Bericht:

"Wie die oben dargestellte Analyse gezeigt hat, gehört der Unfall am vierten Reaktorblock des Kernkraftwerks Tschernobyl zu den Unfällen mit übermäßiger Reaktivitätszufuhr. Die Konstruktion der Reaktoranlage sah unter Berücksichtigung der physikalischen Besonderheiten des Reaktors einen Schutz vor Unfällen dieser Art vor, auch unter Berücksichtigung des positiven Dampfblasenkoeffizienten." (S.29)   [ 4 ]
 
Dieser Koeffizient beschreibt eine charakteristische Eigenschaft des RMBK-Reaktors, die besagt, daß bei Zunahme des Dampfgehalts im Kühlwasser sich unter bestimmten Bedingungen die Leistung erhöhen kann.

Und gerade diese Schutzeinrichtungen wurden außer Kraft gesetzt.

"Der Unfall nahm deshalb katastrophale Ausmaße an, weil das Personal den Reaktor in einen solch unvorschriftsmäßigen Betriebszustand brachte, daß sich der positive Reaktivitätskoeffizient entscheidend auf den Leistungsanstieg auswirkte.." (S. 31)   [ 5 ]Durch die Explosionen und das ganze geschilderte Vorgehen gerieten große Massen von Radioaktivität in die Luft und wurden durch die Winde auf dem europäischen Kontinent verstreut. Sie führten in einigen näheren Regionen zu einem ernsthaften Anstieg der Radioaktivität. Die unmittelbare Umgebung mußte evakuiert werden. In den darauf folgenden Tagen arbeitet man mit großer Energie daran, das Reaktorgebäude zu verschließen und den Brand zu ersticken, was gelingt. Die Tage nach der Katastrophe sind zugleich Tage der größten atomaren Schutzmanöver, der atomaren Brandbekämpfung, Einschließung und so weit wie möglich der Dekontaminierung der Umwelt.

Die Reaktorblöcke 1 und 2 in unmittelbarer Nähe des Reaktors 4 arbeiten noch am Tage der Katastrophe 24 Stunden weiter!!!

Auch diese Darstellung zeigt übrigens, daß die Propaganda, wie sie hier lief, wenngleich diese Katastrophe schwerwiegend war, beabsichtigte, daraus eine regelrecht mystische Angelegenheit zu machen, in der Absicht, generelle Furcht vor der großen Technik zu erzeugen. Dies hat mit einer realistischen Einschätzung nichts zu tun. Das ist prinzipielle propagandistische Absicht, die all denen zugute kommt, die die Deindustrialisierung vorangetrieben haben und die die Verunsicherung gegenüber den materiellen Grundlagen der Gesellschaft betreiben.

Der Bericht der damaligen politischen Verantwortlichen der Sowjetunion hält auch nicht ganz hinter dem Berg, was er politisch zu schlußfolgern gedenkt:

"Der Sättigungsgrad der gegenwärtigen Welt mit potentiell gefährlichen industriellen Produktionsbereichen, der die Folgen von Kriegshandlungen erheblich vergrößert, läßt die Frage nach der Sinnlosigkeit und Unzulässigkeit eines Krieges unter den gegenwärtigen Bedingungen in einem neuen Blickwinkel erscheinen." (S. 3)   [ 6 ]Damals wurde oft die Möglichkeit diskutiert, daß ein potentieller militärischer Gegner Atomkraftwerke angreifen könnte und man sie deshalb nicht bauen dürfte. Es waren die Gleichen, die die sog. Entspannungspolitik predigten, die dies äußerten. Sehr interessant: da passiert eine Katastrophe, ein angeblicher "Unglücksfall", an einem sowjetischen Reaktor, und die gleichen Verantwortlichen warnen andere Länder vor ihren Kernkraftwerken und Industrieanlagen, der Sättigungsgrad sei erreicht, das heißt, weitere Anlagen dürfen wohl nicht gebaut werden. De facto also Drohungen der damaligen sowjetischen Führung im Zusammenhang damit, daß bei ihnen unter sehr zweifelhaften Bedingungen eine Katastrophe passierte.

Und dann erklärt Gorbatschow, unter dem die USA einen entscheidenden Einfluß in der Sowjetunion selbst gewannen, daß man anläßlich Tschernobyl enger mit der IEAO zusammenarbeiten solle, die wohl insgesamt die atomare Industrie, auch die russische, international enger kontrollieren solle.

 

Die Schlußfolgerungen der Gesellschaft für Reaktorsicherheit

Ebenfalls existiert im Anschluß an diesen Bericht eine ausführliche Darstellung der Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) "Neuere Erkenntnisse zum Unfall im Kernkraftwerk Tschernobyl. Stand: Oktober 1986"

Auch hier können die frappierenden Umstände nicht verschwiegen werden. Aber man versucht auch hier, das Ganze einfach unter der Rubrik "menschliches Versagen", unter "Verstoß von Betriebsvorschriften" einzuordnen.

Man bemüht die Psychologie: die Mannschaft habe großen Ehrgeiz besessen und habe diesen Versuch in größerer Geschwindigkeit durchführen wollen. Andere wesentliche Fragen, nach dem politischen Kontext, in den die Sowjetunion selbst diese Sache stellen wollte, Fragen nach der Verantwortlichkeit dieses bar jeder Verantwortung betriebenen "Versuchsprogramms" an dem Reaktor, stellt man offensichtlich nicht.

Zusammenfassend heißt es in diesem Bericht:

"Bei dem Fehlverhalten handelt es sich um bewußte und grobe Verstöße gegen bindende Vorschriften. Die Häufung und das Gewicht der Fehlhandlungen deuten darauf hin, daß die Betriebspraxis durchgehend, nicht nur isoliert am 26.4.86, von einer Haltung mangelnden Bewußtseins für Sicherheitsfragen gekennzeichnet war." ( S.34)    [ 7 ]Daß derartige verantwortungslose Handlungen - ein derartiger Begriff erfolgt von der IAEO oder der GRS nicht! - lediglich auf mangelndes Bewußtsein in Sicherheitsfragen zurückzuführen sei, ist lächerlich. Selbst ein Laie wüßte, daß ein derartiges Betreiben an einem Reaktor lebensgefährlich, und zwar nicht nur für die Belegschaft, ist. Ein ernsthaftes Bestreben, die Hintergründe dieses Verhaltens zur ergründen, ist von der IAEO oder GRS nicht zu erkennen. Die Frage, wer dieses Versuchsprogramm anordnete oder durch welche übergeordneten Behörden diese Versuche gebilligt wurden, wird nicht gestellt. Auch wird keinerlei Material darüber veröffentlicht, was denn die Verantwortlichen dieser "Schicht" bei den Untersuchungen ausgesagt haben oder ob diese alle bei dem Unglück ums Leben gekommen sind, was nach sowjetischer Darstellung kaum der Fall gewesen sein dürfte.

Unter Wegstreichung aller dieser Punkte heißt es dann lediglich:

"Das Verhalten des Personals war in Verbindung mit erheblichen Schwächen in der Anlagenauslegung die Ursache für den Unfall im Kernkraftwerk Tschernobyl." (S.33)   [ 8 ]Personalschwächen und Schwächen der Bauweise - das ist die ganze Litanei, eine höchst billige Litanei, die der Qualität der Dinge in gar keiner Weise gerecht wird. Ebenso naiv sind die Vorschläge, mit denen Derartiges in Zukunft verhindert werden soll: "Personaltraining unter spezieller Berücksichtigung des Verständnisses über die Vorgänge im Reaktor und beim Reaktorbetrieb einschließlich der Schulung an Simulatoren, die auch die Vorgänge bei schweren Unfällen realistisch wiedergeben." (S. 32)   [ 9 ]Kann man denn ernsthaft annehmen, diese Crew, die in diesem Reaktor erfolgreich seit Jahren arbeitete (so sagt der Bericht selbst), kennt das Gefahrenpotential nicht, das darin lagert? Die Anweisungen für den Reaktorbetrieb zeigen durchaus die Gefahr des Reaktors bei niedriger Leistung.

Es heißt dann in dem Bericht der GRS:

"Da ein bewußtes Herbeiführen des Unfalls ausgeschlossen werden kann, wird das Vorgehen des Personals nur verständlich, wenn man davon ausgeht, daß es das physikalische Verhalten des Reaktors im Bereich niedriger Leistungen nicht ausreichend kannte." (S.34)   [ 10 ]Diese Formulierung zeigt, daß sich selbst die Redakteure dieses Berichts mit der Frage einer bewußten Herbeiführung einer schweren Havarie befassen mußten, warum dies aber ausgeschlossen wird, angesichts der ganzen Kette von Handlungen, die sie ermöglichte, bleibt ohne jede nähere Begründung.
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Im Zusammenhang mit dem Jahrestag von Tschernobyl werden wieder Demonstrationen stattfinden, mit faktischer Unterstützung der öffentlichen Medien, die die altbekannten Forderungen aufstellen und die altbekannte Litanei über die Unvermeidlickeit derartiger "Unfälle" aufstellen, und rücksichtslos und ohne Erbarmen die Stillegung aller Kernkraftwerke fordern. Achten Sie einmal darauf, ob hier in diesem Land oder im Ausland auch nur einmal auf diese frappierenden Umstände dieser Katastrophe eingegangen wird. Damit ist nicht wesentlich zu rechnen. Im Gegenteil, sie werden verschwiegen werden. Am 10. Oktober 1986 gab unsere Gruppe seinerzeit ein Flugblatt mit dem Titel "Die Veröffentlichung des Tschernobyl-Berichts" nach längerer Vorbereitung heraus, das auf die Hintergründe, soweit damals bekannt, einging. Bis zu diesem Zeitpunkt nahm die Tschernobyl-Propaganda einen wesentlichen Teil in den Medien ein. Leider hatten wir dann den Nachteil, daß von diesem Vorstoß durch einen Anschlag der sog. RAF auf einen Diplomaten noch in den Abendstunden des gleichen Tages abgelenkt wurde, eine Erfahrung, die wir schon bei ähnlichen aufklärerischen Vorstößen in früheren Jahren gemacht haben.

Es muß in diesem Zusammenhang auch auf den Vergleich mit westlichen Reaktoren, namentlich in Deutschland, eingegangen werden. Richtig ist, daß eine Katastrophe wie in Tschernobyl, in der gleichen technischen Art, auf Grund der ganz anderen Bauweise der Siedewasser- und Druckwasser-Reaktoren nicht möglich ist. Außerdem sind diese Reaktoren auch gegen Eingriffe erheblich anders abgesichert. Aber prinzipiell gilt: wenn Leute in einer Betreibergruppe oder in einer Belegschaft oder deren Leitung etwas verursachen wollen, dann kann man zwar ein Werk relativ dagegen absichern, aber eine absolute Sicherheit kann es dagegen nicht geben. Als Gegenmaßnahme kann man nicht auf Reaktoren verzichten, die Betreffenden können auch chemische Werke oder militärische Anlagen in die Luft gehen lassen oder mit Gentechnik Katastrophen herbeiführen. Man muß derartige Gefahren gesellschaftlich bekämpfen, es ist die Frage, welche gesellschaftliche Kontrolle über derartige Bereiche erhoben wird.

Man erinnere sich auch daran, daß in den Medien der Bundesrepublik wie in denen der USA ein Mann wie Dudajew gefeiert wird, der schon im Jahre 1991 mit Angriffen auf Kernkraftwerke drohte, wenn Rußland seinen Forderungen nach "Unabhängigkeit" seiner Kaukasusrepublik nicht stattgibt.

Die mangelnde politische Hinterfragung der ganzen Angelegenheit ist nicht zufällig bei der IEAO, die ein Organ ist, das die Kontrolle der Atomenergie im Interesse einiger weniger Mächte, damals der USA und der Sowjetunion, ausübt. In diesem Kontext der Frage der Hegemonie der atomaren Technik ist aber auch der gesamte Rahmen der politischen Kampagne, die auf Tschernobyl folgte, zu sehen. Daß ein Sturm, angefeuert durch die öffentlichen Medien in der Bundesrepublik, auf sofortige Abschaltung der Kernenergie hierzulande drängte, ist selbst eine beredte Sache.

Schließlich ist aber auch klar geworden, daß eine derartige komplexe Technik, die hohe Sicherheitsanforderungen stellt, auch eine entsprechende gesellschaftliche Grundlage benötigt. Man kann nicht menschlich, sittlich auf einem rückständigen Niveau leben, ja sogar Zersetzung in der Gesellschaft betreiben und gleichzeitig eine hochkomplexe und mit enormen Energiemassen operierende Technik betreiben. Aus all dem folgt in der Tat die Notwendigkeit der gesellschaftlichen Umgestaltung, aber die Demontage der Technik ist ein Weg in die falsche Richtung. Das Gleiche gilt auch für die anderen revolutionären Techniken wie die Gentechnik, die Computervernetzung der gesamten Menschheit, die in vollem Gange ist. Einigen Menschen erscheint diese Technik auch als unheimlich, da sie ihnen nicht mehr durchschaubar ist. Letztlich setzt die erfolgreiche Bewältigung einer solchen Technik auch eine solche sittliche Grundlage voraus, daß die Gesellschaft von sich selbst sagen kann: sie will die Natur in dieser Weise beherrschen, sie hat einen solchen Stand erreicht, daß sie auf dieser Ebene die weitere Umgestaltung der Natur betreiben kann.

Hinter dem teilweisen Erfolg dieser antiindustriellen Kampagne liegt auch ein gesellschaftliches Problem. Sie nutzt alle Rückständigkeit in der Gesellschaft aus, versucht die Abneigung gegen die Naturwissenschaften zu vertiefen und greift die Zivilisation an einer empfindlichen Stelle an. Man darf nicht vergessen, daß die Technik als unweigerlich zweischneidige Sache sehr oft auch zur Unterdrückung mißbraucht wurde. Wir sehen, daß die Frage der Vergesellschaftung der Produktivkräfte, letztlich die Frage des Sozialismus, weiter akut ist.

All dies zeigt, daß die Behandlung der gesellschaftlichen Grundlagen -die Diskussion, wie sich die Frage des gesellschaftlichen Eigentums und des privaten Eigentums und die Frage der Sittlichkeit in der Gesellschaft verhalten- als die hauptsächlich zu behandelnde Frage weitergeführt werden muß. Die Frage der Kernenergie ist nicht die erste Frage in der Gesellschaft, gleichwohl sich ganz Wesentliches der Naturanschauung und der Herangehensweise mit ihr verbindet. Aber es ist notwendig zu verdeutlichen, daß die Behandlung der Katastrophe von Tschernobyl nicht ohne die geschilderten frappierenden Umstände behandelt werden kann. Wir begrüßen es, wenn der Tschernobylereignisse gedacht wird, allerdings darf das Wichtigste dabei nicht außer Acht gelassen werden. Ohne dies ist es nur Irreführung und Heuchelei.

K.S. 7.4.96


 
 

Zitatnachweis und Literaturhinweis
 

Anmerkungen  [1] [2] [3] [4] [5] [6]    zurück zum Text

Staatskomitee für Nutzung der Kernenergie der UdSSR:  Der Unfall in dem Kernkraftwerk von Tschernobyl und seine Folgen

Eine für die Expertenkonferenz der IAEO vorbereitete Information  (25. - 29. August 1986 in Wien);
Teil I. Allgemeines Material; August 1986; Arbeitsunterlage

(Übersetzung aus dem Russischen durch den Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit)

 

Anmerkungen  [7] [8] [9] [10]    zurück zum Text
 
Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) mbH, Köln/Garching

Neuere Erkenntnisse zum Unfall im Kernkraftwerk Tschernobyl   Stand: Oktober 1986; (2. Auflage Februar 1987) ISBN 3-923875-13-4
 
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© 1996 Verlag NEUE EINHEIT   (Inh. Hartmut Dicke)