Internet Statement 4/99

 
 

An Chris Burford!

Ich gehe jetzt auf die vorderen Teile Ihres postings vom 3. Dezember 1998 ein. Seitdem ist schon etwas Zeit vergangen, aber in der Zwischenzeit haben wir ja auch andere Postings veröffentlicht, die zugleich Stellungnahmen zu verschiedenen Ausführungen von Ihnen waren, die INS Nr.11/98 und 12/98 mit den Artikeln und Äußerungen von Eduard Bernstein und Friedrich Engels. Ein ganz wesentlicher Punkt wurde auch schon von unserem Redakteur W. Grobe behandelt.

Auf Behauptungen und Unterstellungen, die nicht bewiesen werden, werde ich nicht eingehen, sondern nur auf konkrete Fragen und Fragestellungen, die sich aus dem Text konkret ergeben.
 

>>In der Weise, wie es heute propagiert wird, von den in der Welt 
>>herrschenden Kapitalgruppen, insbesondere der internationalen 
>>Finanzoligarchie, wird es mehr noch ein Mittel bei ihrem Ziel der 
>>Schwächung der gesellschaftlichen Strukturen, der Degeneration der 
>>Bevölkerung, manchmal sogar der Verringerung der Bevölkerung 
>>von der Zahl her, und der ganzen kulturellen Schwächung der 
>>Arbeiterbewegung und der Volksmassen, die in vielen Ländern den 
>>jetzigen Zustand nicht mehr zu akzeptieren bereit sind.

>Warum sollte der Finanzkapitalismus eine Reduzierung der 
>Bevölkerung wünschen? Weniger Arbeitskraft, weniger Mehrwert.

Diese Gegenfrage beruhte auf einer Milchmädchenrechnung. Haben Sie schon je einmal etwas von Malthusianismus gehört und den langen Kritiken, die Marx und Engels dazu geschrieben haben? 

Die Haltung der Bourgeoisie zur Entwicklung der Produktivkräfte und zur Entwicklung der Volksmassen ist vollkommen widersprüchlich. Sie sind gezwungen, die Produktivkräfte zu entwickeln und zugleich fürchten sie diese Entwicklung, was entsprechende Gegenreaktionen hervorruft. Ferner bedeutet jetzt die Reduzierung der Bevölkerung für bestimmte Teile der Bourgeoisie zunächst keineswegs eine Einschränkung der Profite. Wenn es ihnen gelingt, die revolutionäre Entwicklung zu bremsen, können sie auch den Zwang, den Verkauf der Arbeit zu sehr schlechten Bedingungen anzunehmen, erhöhen. Wir können am Beispiel Europas solche Entwicklungen in der Praxis analysieren. Hat hier die zum Teil extrem niedrige Geburtenrate, die Reduzierung der einheimischen Bevölkerung zur Reduzierung der Profite geführt? Natürlich nicht. Teilweise steht noch eine genügende Zahl jetzt im berufsfähigen Alter stehender Menschen zur Verfügung, andererseits wird durch den Zustrom neuer Arbeitskräfte aus dem Ausland die Konkurrenzsituation verschärft. Heute bietet die Bourgeoisie einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung, sowohl Einheimischen wie Ausländern bzw. Eingebürgerten Arbeitsplätze zu Bedingungen an, die man vor 20 Jahren noch nicht einmal auszusprechen gewagt hätten. Die Frage ist nämlich, unter welchen Bedingungen wird die Arbeitskraft angeboten, und wie wird die kapitalistische Reservearmee ins Spiel gebracht. Die simple Schlußfolgerung "Less labour power, less surplus value" verrät einen blanken Ökonomismus. 

Genausogut könnte man doch anläßlich eines Krieges dies sagen: ein Krieg bedeutet Zerstörung von Menschen und von Produktivanlagen, also "Less labour power, less surplus value". Sie wissen sehr gut, daß für bestimmte Arten von Kapitalisten diese großen Kriegszerstörungen keinerlei Minderung der Profite bedeuten, sondern das genaue Gegenteil. 
 

>>Einige der hauptsächlichen Punkte wollen wir hier zusammenfassen.

>>In der Zeit 1895, als Engels schwer erkrankte und schließlich im 
>>August verstarb, machten sich die sogenannten Nachfolger Eduard 
>>Bernstein und Karl Kautsky daran, massiv die von ihm und Marx 
>>vertretenen Prinzipien der Arbeiterbewegung mit Füßen zu treten 
>>und eine völlige Revision ihrer Anschauungen zu betreiben. 
>>Besonders offen war dies bei Bernstein der Fall. Es fällt auf, daß daß 
>>diese beiden in einer niedrigen Weise entgegen dem Willen des 
>>Autors u.a. das Vorwort zu der seinerzeit sehr bekannten Schrift 
>>über die Klassenkämpfe in Frankreich verfälschten. Engels 
>>beschwerte sich in einem Brief, man habe sein Vorwort "derartig 
>>zurechtgestutzt, daß ich als friedfertiger Anbeter der Gesetzlichkeit 
>>quand même dastehe" (MEW 39, S. 452) Kurz nach diesem 
>>Zusammenstoß erkrankte Engels schlagartig so schwer, daß ihm 
>>faktisch die Möglichkeit zur Weiterarbeit genommen war. 

>Trifft es nicht zu, daß Engels Bernstein zu seinem literarischen 
>Nachlaßverwalter bestimmt hat?

Ja, aber wann? Dies war 1893. Bernstein hatte in der Tat bei Engels eine wichtige Rolle eingenommen, aufgrund seiner Rolle als vielseitiger intellektueller Redakteur. Schon immer hatte Engels jedoch gewisse Vorbehalte. Diese haben sich in den Jahren 1893, 1894 und 1895 drastisch verschärft. In der besagten Zeit des Frühjahrs 1895 urteilte Engels gelegentlich sehr negativ über Bernstein. Da es sich um ein Thema von allgemeinem Interesse handelt, werdem wir diese Stellungnahmen von Friedrich Engels über Bernstein und Kautsky an gesonderter Stelle einmal zusammenfassen. In den letzten Wochen seines Lebens zog sich Engels mit seinen engeren Verwandten, der unmittelbaren Umgebung seines Haushaltes und einigen sehr alten Kampfgefährten zurück. Was sollte Engels auch machen in der Frage seines literarischen Nachlasses? Er konnte ihn ja nur jemandem anvertrauen, der Überblick über die bearbeiteten Gebiete aus mehreren Jahrzehnten hatte. Außerdem konnte er nicht das volle Ausmaß der Bernsteinschen Schurkerei sehen.

>>Exakt im Anfang Mai 1895, als Engels bereits sehr geschwächt war, 
>>attackierte Eduard Bernstein die Arbeiterbewegung, daß diese 
>>angeblich einen "fast pharisäerhaften ultrapuritanischen Moralismus" 
>>gegenüber der Homosexualität hege, und begann mit seiner 
>>Verteidigung des Literaten Oscar Wilde, der wegen Päderastie, 
>>zusammen mit einem Homosexuellen-Zuhälter, vor Gericht stand.

>Gewiß konnte es progressive Motive gegeben haben, der 
>Gefängnisstrafe für Wilde wegen seiner sexuellen Vorlieben im 
>heuchlerischen Klima des imperialistischen Britannien im späten 19. 
>Jahrhundert zu widersprechen

Es konnte progressive Motive gegeben haben? Was für Motive? Sie spekulieren bloß.

Darüberhinaus geht es nicht nur um die sexuellen choices, sondern um das gesamte Verhalten des Oscar Wilde. Da ist doch von Päderastie die Rede und von einer Umgebung homosexueller Zuhälterei!
 

>Interessant. Engels hatte einen gewissen Respekt für William Morris, 
>der ein Anti-Industrialist war.

William Morris ist ein Vertreter der englischen Arbeiterbewegung, der vom Anarchismus und von antiindustriellen Vorstellungen gekommen ist und sich allmählich der Position der Arbeiterpartei angenähert hat. Wenn Engels seine Entwicklung förderte, dann bedeutet das doch nicht, daß er die falschen Positionen von Morris akzeptierte. Nirgendwo förderte Friedrich Engels antiindustrielle Ansichten. Leider müssen wir Ihnen bestätigen, daß sie mit aller Gewalt irgendwo eine Unterstützung herauslesen wollen, die gar nicht existiert. Wenn wir aber aber, wie in dem Internet-Statement Nr. 12/98 geschehen, Ihnen die Zitate von Engels über die Homosexualität benennen, dann wird das zur nebensächlichen Angelegenheit deklariert. So kann man doch nicht vorgehen. 

Wir kommen jetzt zu einem sehr prinzipiellen Punkt, den Sie mit der Zitierung des Kommunistischen Manifestes aufrühren. Hier kommt es wirklich zur Sache.

Unser Mitarbeiter W. Grobe ist bereits darauf eingegangen. Aber die Sache ist so zentral, daß ich es noch einmal machen möchte
 

>Ich möchte eigentlich annehmen, daß der Marxismus einen allgemeineren Standpunkt einnimmt. ' Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen." [MEW 4, 465] Ich möchte eigentlich annehmen, der übergeordnete Gesichtspunkt besteht in der Verbindung zwischen Homosexualität und dem atomisierten Individualismus, der das Gegenstück zum Triumph der atomisierten Warenproduktion ist. Wenn Menschen aus reinem nacktem Egoismus zusammenkommen, als Individuen, dann können sie es mit gleicher Logik in homosexuellen Begegnungen tun wie in heterosexuellen. Das ist die Meßlatte einer durchgängig bürgerlich-demokratischen Zivilgesellschaft geworden. Es ist wichtig geworden, daß die Streitkräfte Schwule zulassen, ebenso die Kirchen. Dies symbolisiert den Triumph der Idee der globalen Zivilgesellschaft der atomisierten Individuen. Es gibt viele komplexe Widersprüche in diesem Prozeß, aber ich sehe nicht, warum Marxisten ihn Degeneration nennen sollten.<

Nirgendwo spricht Marx davon, daß etwa die Entweihung des Heiligen bedeute, die grundsätzliche Substanz der menschlichen Sexualität zu ändern. Gewiß, die Liebe ist nicht frei von der Prägung durch die Gesellschaft, durch die gesellschaftlichen Klassen. Aber der natürliche Akt der Liebe, des geschlechtlichen Zusammenseins, ist über Jahrmillionen konstant. Er wechselt nicht, aber es wechseln die gesellschaftlichen Bedingungen. Es ist eine Kuriosität, dies in Frage zu stellen. Die Sexualität des Menschen, die nicht nur für seine Fortpflanzung unmittelbar notwendig ist, sondern auch für seine kulturelle Weiterentwicklung so ungemein wichtig war, wird bei Ihnen unter der Rubrik "heilig" geführt. Solche Gedanken sind allerdings weder bei Marx noch bei Engels zu finden. (Anm. des Übs. s.u.) Und noch mehr wird von Ihnen in der letzten Passage die Liebe im Gegensatz zur nüchternen, rationalen Betrachtung der Gesellschaft gesehen. 

So absurd Ihr Standpunkt ist, so markiert er doch eine gewisse mechanistische Fehlauffassung, die für eine bestimmte Strömung charakteristisch ist. 

Diese Stelle ist die vielleicht zynischste und in gewisser Weise treffendste Stelle, die in der ganzen nunmehr viele Hunderte Beiträge umfassende Polemik im Internet über diese Frage erfolgt ist. Sie markiert lauter Unstimmigkeiten und ist doch interessant. Es hat nie so etwas gegeben, wie es in der Idee der globalen Zivilgesellschaft der atomisierten Individuen postuliert wird, und wird es auch nicht geben. Diese Idee markiert Wunschdenken des Kapitals. Keine Gesellschaft kommt ohne soziale Strukturen aus, und das ist gut so. 

'Keine Nationen, keine organisierten Klassen' - das wäre so nach dem Wunsch des Kapitals und zwar des radikalsten Kapitals, das die rücksichtsloseste Vernutzung der Arbeit betreibt. Die "atomisierten Individuen" sind ohne Rechte in der Auseinandersetzung mit dem hochorganisierten Kapital.

Es drückt sich meiner Ansicht nach hier auch die Perversion der Anschauungen der "bourgeois democratic society" des Verfassers selbst aus, denn in ihnen zeigt sich der Hang, diese von ihm skizzierte Gesellschaft, wenn auch nicht als Endziel, so doch als wesentliches Zwischenziel der Menschheit zu apostrophieren. Auch nur teilweise erreicht, würde sie, sofern sie überhaupt Bestand haben kann, die Menschheit lähmen.

Man muß sich diese Zeilen, bei all ihrer Abscheulichkeit, genau im einzelnen vergegenwärtigen. Denn außer einem menschenfeindlichen Weltbild enthalten sie auch noch die Absichten dieser Kreise des Kapitals, die eine solche Konzeption vertreten. So falsch diese Sätze sind, so beinhalten sie doch jeder für sich eine charakteristische Aussage. Deshalb sollte man sie breiter diskutieren. Lobenswert ist die Offenheit, weil sie nämlich den Zynismus der Homobefreier gegenüber der Gesellschaft, vor allem aber gegenüber den arbeitenden Klassen zeigt.

>Es ist wichtig geworden, daß die Streitkräfte und ebenso die Kirchen 
>Schwule zulassen. Das symbolisiert den Triumph der Idee der 
>globalen Zivilgesellschaft der atomisierten Individuen. In diesem 
>Prozess gibt es viele komplexe Widersprüche, aber ich kann nicht 
>einsehen, warum Marxisten ihn als Degeneration bezeichnen sollten."

Keine Degeneration?: Meiner Ansicht nach liegt hier eine Degeneration der bürgerlich- demokratischen Anschauungen vor, die hier bis zur Absurdität weitergetrieben werden. Die frühere bürgerliche demokratische Revolution wollte Bedingungen schaffen, in der sich die Menschen aus freien Stücken besser organisieren können, von denen aus sie ihre Emanzipation weitertreiben können. Als Fortsetzung dieser Ideen kamen wesentliche neue Impulse auf für die Ideen von Streikrecht, von Koalitionsfreiheit und alle die Ideen, die auf die Emanzipation des Menschen zielen und die Ideen des Sozialismus vorbereiteten. Was ist aber hiervon in der Idee von den atomisierten Individuen übriggeblieben? Diese Idee hat zum Ziel, die Entrechtung zu komplettieren. Sie ist das Gegenteil.
 
 

Anmerkung des Übersetzers:

An dieser Stelle möchte ich eine kurze Bemerkung zu Ihrer Art, Zitate zu gebrauchen, machen. Es gibt auch ein Übersetzungsproblem an der zitierten Stelle.

1. Die "Profanierung des Heiligen" ist hier im Manifest einer der zusammenfassenden Ausdrücke für die Zerstörung der mittelalterlich-feudalen sozialen und kulturellen Beziehungen, und überhaupt älterer Beziehungen durch die Bourgeoisie. Der gesamte Abschnitt wird im Manifest folgendermaßen eröffnet:

"Die Bourgeoisie hat in der Geschichte eine höchst revolutionäre Rolle gespielt.
Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört..." 
Und es folgen zahlreiche Beispiele für diese Revolutionen.
Das bezieht sich eindeutig auf soziale und kulturelle Faktoren aus dem Mittelalter etc.

2. Nehmen wir einmal an, Sie hätten nur die kurze Passage aus dem Manifest vor sich gehabt, die Sie zitieren. Dann haben Sie ein Problem durch die englische Übersetzung, die Sie benutzen. Die Stelle lautet im deutschen Original erheblich anders:

"Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht...." (MEW 4, S. 465)

Die englische Übersetzung ist unserer Ansicht nach an dieser Stelle sehr unzureichend, wenn nicht irreführend: 

"All that is solid melts into air, all that is holy is profaned...." 

Dies enthält genau die Ausdrücke, mit denen das Mittelalterlich-Feudale und das Stagnieren früherer Gesellschaften benannt werden, nicht. "Alles Ständische" müßte übersetzt werden etwa mit "all that pertains to the feudal estates". "Stehend" entspricht weitgehend einem Wort wie "stagnating".

"Solid", was die englische Übersetzung des Progress-Verlages, Moskau, verwendet, erscheint uns geradezu ein falscher Ausdruck, zu sein, der den Sinn dieses einzelnen Satzes entstellt. Allerdings bleibt der Sinn das gesamten Abschnitts trotzdem klar, und hätten Sie etwas mehr gelesen als den einzelnen Satz, dann hätten Sie auch diesen Satz nicht mißverstehen können, weil der Sinn aus dem Zusammenhang eindeutig hervorgeht.

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Redaktion NEUE EINHEIT
Hartmut Dicke

(Unter Mitwirkung des Übersetzers W. Grobe)

Jan./Feb. 1999