Internet Statement 2001-12
 

Was geschieht in der Türkei? 

-- Zwei Kommentare --

I.

Die jüngste Phase der galoppierenden Wirtschaftskrise der Türkei datiert von der Wechselkursfreigabe am 19.Februar 2001. Die Auslandsverschuldung betrug bereits 1998 über 100 Mrd US-$ und zeigte rasante Steigerungen, Streiks hatten zugenommen. Bereits Ende 2000 war das Land einem Krisenprogramm des IWF zur Wiederherstellung seiner internationalen Kreditwürdigkeit unterstellt worden, das den Wechselkurs der türkischen lira an den US-$ fixierte. Nun wird der Wechselkurs abrupt freigegeben, und sofort setzt ein massiver Verfall ein, der bis heute 40-50% ihres Wertes vernichtet hat. Eine unmittelbare Notsituation für Lohnempfänger, Bankrotte zuhauf bei Kleinhändlern und kleineren Kapitalisten sind die Folge. Proteste gegen die Regierung und Rufe wie "IWF raus aus der Türkei!" sind den Meldungen zufolge sehr verbreitet. Am 11.4. kam es in Ankara, Izmir und anderen Zentren zu den bisher größten Protestdemonstrationen und Zusammenstößen mit der Staatsmacht. Bereits für den 14.April sind erneut Streiks und große Protestaktionen geplant, bei denen es auch zu schwereren Zusammenstößen kommen kann. Weg mit dem Demonstrationsverbot, das der Gouverneur von Ankara bis zum 1. Mai verhängt hat!
An den Protesten sind Meldungen zufolge auch Kreise des großen Kapitals beteiligt, die anscheinend der Regierung Unfähigkeit vorwerfen, mit dem IWF zu einem deal zu kommen, und versuchen, ihre eigene Art von Reformen im Zusammenhang mit den Massenprotesten durchzusetzen.

 -wgr- 

II.

Fragen, die sich zum wirtschaftlichen Zusammenbruch in der Türkei stellen

Man muß die Frage stellen, ob nicht die ganze militärbürokratische Diktatur, der Kern des türkischen Staates, ergänzt durch den islamischen Fundamentalismus, derartig auf dem türkischen Volk lasten, daß dieses an sich sehr tüchtige Volk wirtschaftlich gar nicht erst auf die Füße kommen kann.

Manchmal wird, auch bei Arbeitern, die Meinung vertreten, die türkische Militärherrschaft sei zwar nicht ideal, aber immer noch besser als der islamische Fundamentalismus, und die türkischen Militärs würden das Volk und auch die Arbeiter vor dessen Regime schützen, das die völlige Versklavung der Arbeiter und der Frauen bedeuten würde. Aber in Wirklichkeit trägt dieser Militärstaat die typischen Merkmale eines Kompradorenregimes, das unfähig ist, die Potentiale eines solchen Landes zu entwickeln, und Revolution, völlige Umgestaltung im Sinne einer neudemokratischen Revolution, ist zunächst notwendig. Dazu gehört auch, daß der islamische Fundamentalismus geschlagen wird, weil er als Reserve für die gesamte Reaktion dient, und solange er gegen das ganze Land drückt, es auch keine Politik geben kann, die z.B. mehr Demokratie gegenüber dem Militär durchsetzt. Aber bis heute ist es keiner revolutionären Kraft gelungen, sich so zu formieren, daß sie wirklich ein positives und für das gesamte Volk vorwärtsweisendes Programm hat. Ob solche Kräfte in der Türkei vorhanden sind, selbst nur im kleinen Maßstabe, können wir von hier aus nicht wissen, ist aber für uns nicht zu erkennen.

Dieser Staat der Türkei ist auch korrumpiert durch den seit altersher und allenthalben gepflegten Chauvinismus, der sich bspw. in der Besetzung von mehr als der Hälfte Zyperns ausdrückte, obwohl nur ein Fünftel der Bevölkerung türkischer Abstammung ist, oder in der anmaßenden Hetze, die der türkischen Expansion im Ausland über einen Teil der türkischen Auswanderer Auftrieb gibt. Diese Anmaßung, die u.a. auch darin bestehen kann, zur Annahme der Staatsbürgerschaft in anderen Ländern zu ermuntern und zugleich diese Einwanderer weiter an den türkischen oder islamischen Chauvinismus zu binden, wird von den türkischen rechten Chauvinisten mit den islamischen Fundamentalisten geteilt. Alles das sind im Grunde Bestrebungen, die der modernen Entwicklung der Türkei völlig zuwiderlaufen. Es gibt sowohl unter den Arbeitern als auch den Handwerkern als auch den kleineren Industriellen in der Türkei viele Bemühungen, Anschluß an die moderne Entwicklung zu finden, aber sie bekommen ihn nicht, weil dieser korrupte und brutale Staat es verwehrt. 

Anläßlich des Erdbebens 1999 wurde deutlich, daß die türkische Armee, die sich überall als Unterdrücker hervorgetan hat, nicht fähig ist, elementare Hilfe bei einem solchen großen Erdbeben zu leisten, bei dem wahrscheinlich Tausende von Menschen in den Trümmern noch langsam gestorben sind, weil von der Armee keine Hilfe gebracht wurde. Fast in allen anderen Ländern legt die Armee bei solchen Katastrophen sofort mit Hand an. Hier ist eine Armee von 600.000 Mann, mit aller logistischen Ausrüstung und Fahrzeugen, die nur einen minimalen Einsatz zeigt und die Hilfe im wesentlichen vom Ausland erledigen läßt. Dieser Skandal ist heute noch nicht vergessen. 
Es ist die türkische kompradorenhafte und NATO-unterwürfige Oberschicht, die unfähig ist, kompliziertere Aufgaben zu meistern, sondern allenfalls auf der ökonomischen Welle etwas mitgeschwommen ist, als die großen wirtschaftlichen Aufschwünge, die von Ostasien ausgingen, die ganze Welt erfaßten. Damals war auch die Türkei etwas besser dran als heute. Aber seitdem dieser Aufschwung durch eine Krise abgelöst ist, zeigt sich, daß dies unselbständig war. 
Die Proteste richten sich gerade auch gegen den IWF, der hier wie in allen Ländern das niederste und brutalste Niveau durchzusetzen versucht. 

In der ganzen Region ist eine Umwandlung unvermeidlich, da die Verhältnisse ökonomisch nicht mehr aufrechterhalten werden können. In einer anderen Weise, aber doch im Prinzip ähnlich, ist das Regime des islamischen Fundamentalismus in Iran am Wanken. Hier haben wir eine andere Gruppierung an der Macht, die nicht mehr so sehr die alte staatliche Kompradorenbourgeoisie repräsentiert, wie das größtenteils für den Schah charakteristisch war, sondern islamische fundamentalistische Kräfte, die aber genauso die ökonomische Zersetzung, die bürokratische Behinderung des Volkes verkörpern wie etwa die Militärkaste der Türkei.
Es wird also maßgeblich darauf ankommen, daß diese Völker sich gegenseitig unterstützen bei dem Kampf gegen diese Regimes, denn eine sehr weitgehende Änderung der Strukturen in diesen Ländern ist unvermeidlich. 

Unterstützt die große Bewegung des türkischen Volkes!

 -ks- 

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Redaktion Neue Einheit  13.4.2001