Internet Statement 2001-40


Wahlen  in  Berlin


Die Berliner Wahl interessiert die Bürger, entgegen den Äußerungen in den Medien, sehr wenig. Fast alle sind sich darüber im Klaren, daß die Parteien, die hier zur Wahl stehen, die Probleme in dieser Stadt nicht bewältigen können. Bei Wahldiskussionen werden immer wieder die Probleme aus der Vergangenheit angekratzt, aber keine einzige Partei hat irgendein Konzept, um etwas zu bewältigen. Und in der Tat: der bürokratische Wasserkopf, der sich in dieser Stadt - im West- und im Ostteil - herausgebildet hat, kann nicht von den Kräften, die mit diesem Wasserkopf groß geworden und eng verbunden sind, beseitigt werden. Vor kurzem sagte eine Zuhörerin einer SFB-Diskussion am Dienstag.: „Ich habe keine Zeit mehr, mir immer wieder die Politiker und ihre Versprechungen anzuhören." Und jemand Anderes bemerkte: was dort gesagt wird, wird man wahrscheinlich in vier Jahren so ähnlich wieder hören.
Die Bundespolitik ist gegenwärtig nicht imstande, diese Aufgaben zu bewältigen, und die Berliner Politik schon gar nicht. Denn letztlich resultiert die ganze zusätzliche Verbürokratisierung dieser Stadt aus der vorherigen deutschen Konfrontationslage. Von den 16 Mrd. DM Einnahmen in Berlin werden, so hört man immer wieder, 14 Milliarden alleine für den öffentlichen Dienst und das Personal im Apparat ausgegeben. Es liegt auf der Hand, daß das nicht funktionieren kann. Zur Geschichte gehört aber, daß in Westberlin das Verschieben ganzer Schichten aus den Berufstätigen der Produktion in den öffentlichen Dienst hinein ein Mittel war, die sozialen Probleme in der Stadt vollkommen zu verschleiern. Industrielle Arbeitsplätze hat man schon seit den 70er Jahren en masse verloren, ihre Zahl wurde auf Bruchteile reduziert, und der Wasserkopf wurde immer weiter ausgedehnt. Das Erbe hat man heute, und keine dieser Parteien, die sich auf die Verschiebung, die Aufstockung des öffentlichen Dienstes sozial mit gestützt haben, kann daran etwas ändern. Westberlin war ja auch das Zentrum der anti-industriellen Kampagne, der Anti-Kernkraft-Bewegung, der Alternativbewegung, die ihre Auswirkungen auf die Industrialisierung im ganzen Land gehabt hat. Jetzt hat man das Ergebnis davon in der eigenen Stadt. Allgemein war Westberlin damals ein politisches Zentrum, insbesondere in den 60er und 70er Jahren, aus dem heraus politische Bewegungen in ganz Europa verbreitet wurden, und Ostberlin und die Teilung der Stadt waren ein neuralgischer Punkt, von dem aus die Kontrolle in Osteuropa und dem gesamten RGW ausgeübt wurde. Die Kontrolle über die DDR war für den sowjetischen Revisionismus lebenswichtig für die Kontrolle seines gesamten Bereiches in Europa.
Die Bankenkrise, speziell die der Berliner Bankgesellschaft, ist das Symptom dieses Wasserkopfes. Und bei den Diskussionen wurde deutlich, daß die Parteien, die hier antreten, CDU, SPD, PDS, FDP und erst recht Grüne, keine Chance haben, diese Verhältnisse zu ändern. Sie werden nichts in dieser Hinsicht bewirken können, sondern sie werden selbst von diesem Problem getrieben werden, und ihre Versuche, das per Steuerpolitik auf die Bevölkerung umzulegen, müssen erst einmal durchgesetzt werden, denn das kann weitere verheerende Auswirkungen haben.
Um das wirklich zu bekämpfen, müßte von den Wurzeln, den „grassroots" her, etwas ganz Anderes geschehen, müßte mit dieser Bürokratisierung und dem Selbstverständnis der Politik, sich an dem Land selbst zu bedienen - das ist ja ein Teil dieses Filzes -, abgerechnet werden, und dieses kann nicht aus den Parteien heraus kommen, die hier existieren.

Bei kaum einem Redner der Parteien fehlt die Abstandnahme vom Filz und die Überlegung wie man den Filz überwindet. Sie reden vom Filz und sie gehören zum Filz - das ist bei der CDU so wie bei der FDP, wie bei der SPD und genauso bei den Grünen. In etwas veränderter Form gilt das auch für die PDS. Die FDP behauptet, sie gehöre nicht zum Filz, weil sie zuvor im Abgeordnetenhaus nicht vertreten war, was ganz und gar eine falsche Rechnung ist. Die SPD läßt ihre eigene enge Verbindung zum Bankenskandal und zum Immobiliensektor in Berlin weg, um sich als eine Partei der Erneuerung darzustellen, die die Zusammenstreichung des öffentlichen Dienstes erwirken und für eine neue Ökonomie in Berlin sorgen will, was aber im Widerspruch auch zu ihrer eigenen Rolle steht. Sibylle Klotz von den Grünen sagte sogar: „Wenn Berlin nicht aus dem Filz herauskommt, und ich meine damit nicht nur die Bankgesellschaft - dann hat diese Stadt keine Zukunft." Und damit hat sie durchaus recht, man muß nur dazusagen, gerade die Grünen sind durch und durch eine Subventions- und eine „Staatsknete"-Partei, wie sie sich ja selbst gerühmt haben. Gleichzeitig fordern sie erneut Milliarden vom Bund, damit das System vor dem Zusammenbruch bewahrt wird.

In der Tat hat die Stadt mit diesen Parteien und mit diesem ganzen System, das hier die politische Linie trägt, keine Zukunft.

Man kann sagen: alle Parteien sind nicht imstande, die Haushaltsprobleme zu lösen. Deswegen wird das Desaster weitergehen, und der Bürger hat nichts zu wählen - das ist die Realität dieser Wahl. Es wird deutlich, wie ein formaler Wahlmodus existieren kann, und in Wirklichkeit hat der Bürger überhaupt nichts zu bestimmen, weil dieser ganze politische Apparat von der Wirklichkeit abgehoben ist. Das ist in Berlin sogar noch deutlicher als in anderen Teilen der Bundesrepublik.
Wenn Wowereit davon spricht, er will tiefe Einschnitte von schmerzhafter Art in den öffentlichen Dienststrukturen unternehmen, er will nicht mehr die Dinge wie bisher verdrängen, dann kuriert auch er an Symptomen herum, denn: solange in Berlin nicht versucht wird, Industrialisierung wieder auf moderner Grundlage in Gang zu setzen und den ganzen Geist, der diese vertrieben hat, zu bekämpfen, so lange kann sich auch nichts Grundlegendes ändern. Es ist die Bankgesellschaft und die Bankenwelt überhaupt und der ganze Immobiliensektor, der vom Nehmen von Milliarden an Subventionen geprägt ist, der nicht von Eigeninitiative geprägt ist, wie es das kapitalistische Märchen immer wieder erzählen möchte, sondern vom Nehmen von Subventionen, und zwar genauso unter der CDU und FDP wie unter den sogenannten Linken. Bei dieser Sache gilt genauso wie bei Krankheiten: man kann etwas nur bekämpfen, wenn man von den Symptomen hin zur Ursache der Krankheit selbst, zu ihrer Entstehung geht und von daher die Lösung findet.

Es gibt eine Reihe von Sekten, die marktschreierisch behaupten, sie hätten etwas zur Lösung in der Tasche, und in Wirklichkeit haben sie es nicht, denn die Probleme liegen tief in der sozialen Schichtung und in der sozialen Entwicklung der letzten 50 Jahre, nämlich in der sozialen Konfrontation, im Klassenkampf, der in der Geschichte dieses Landes eine explizite Rolle spielte, verankert.
Es gilt für alle: wenn nicht versucht wird, an den Ursachen der Entwicklung anzuknüpfen, Änderungen in der ganzen Stoßrichtung herbeizuführen, die auch mit der ganzen Besatzungslage Deutschlands und mit der ganzen Abhängigkeit Deutschlands zusammenhängen, die sich jetzt auch in der konkreten aktuellen Politik zeigt - wenn man das nicht alles im Zusammenhang anpackt, wird sich nichts ändern. Die Lage hat aber den Vorteil, daß der Stein, der auf Berlin lastet, so drückend werden wird, daß er nach wirklichen Änderungen schreit.
Genau so wenig können die Rechten hier irgend etwas daran ändern, deren Politik erst recht darauf hinausläuft, die Deutschen wieder zum Kanonenfutter für die imperialistischen Machenschaften zu machen und einen wirklich vergiftenden Streit zwischen Ausländern und Deutschen zu erzeugen und außenpolitisch das Land zwischen alle Stühle zu setzten, ohne daß irgendeines der drückenden Probleme angepackt wird.

In einem Kommentar der „Welt" vom 18. 10. unter dem sarkastischen Titel „Hoffnung überall" hieß es: „Dieser Wahlkampf riß niemanden vom Stuhl." Dem kann man nur beipflichten. Weiter sagt der Kommentator: „Es wird Zeit, daß es endlich zur Stimmabgabe des Bürgers kommt." Sozusagen: die Wahl hinter sich bringen, damit die peinliche Situation nicht immer weiter besteht. Selbst bürgerliche Zeitungen sind gezwungen, manchmal Wahrheiten auf den Tisch zu legen.

Berlin muß abrechnen mit der ganze Öko-Rolle, Berlin muß abrechnen mit der ganzen Deindustrialisierungsrolle, Berlin muß abrechnen mit dem Lakaientum vor den USA und den anderen westlichen Besatzungsmächten, Berlin muß abrechnen mit dem Lakaientum auch gegenüber dem sowjetischen Revisionismus und seiner faktischen Hegemoniepolitik, Berlin muß wieder an Wissenschaftstraditionen und auch an revolutionären Kämpfen und Epochen, die dieses Land einmal beherrscht haben und immerhin auch mit Berlin verbunden sind, anknüpfen. Ganz sicher werden sich frühere Epochen des 20. Jahrhunderts nicht wiederholen; was Geschichte ist, ist Geschichte. Aber ein Stück des selbständigen Geistes und der Loslösung von der Bevormundung, die sich an dem neuralgischen Punkt West-Ost gezeigt hat, ist ein Ferment, das neue Entwicklungen unterstützen kann.

Redaktion Neue Einheit

19.Oktober 2001