Internet-Recherche 2004-36

 

Zu den Ergebnissen der NATO-Tagung in Istanbul– Irak, Kaukasus und Zentralasien, Stellung der Türkei etc.

(kommentierende Presseschau)


Die NATO-Tagung in Istanbul befaßte sich, soweit man den NATO-Verlautbarungen und der bürgerlichen Presse folgen kann, vor allem mit  der von den USA gewünschten weitergehenden Unterstützung für die irakische Souveränitätsfarce, mit der Expansion der NATO in den kaukasischen und zentralasiatischen Raum, ihrer Rolle in Afghanistan, sowie ferner noch der langhingezogenen selbstgeschaffenen Balkan-Misere und anderen Fragen.

Erneut versuchten die USA im Zusammenhang mit der Tagung, den EU-Beitritt der Türkei zu pushen. Die Zurückweisungen aus bestimmten EU-Kreisen fielen relativ deutlich aus, hinderten Bush jedoch nicht daran, weiter in dieses Horn zu blasen, weil dies für die USA eine sehr wichtige langfristige strategische Devise darstellt. Mit einem EU-Beitritt der Türkei könnten sie den europäischen Unabhängigkeitsbestrebungen schwer schaden und durch die Verstärkung des ultrareaktionären Islamismus in Europa sich weiteres Werkzeug gegen den sozialen und demokratischen Kampf der europäischen Arbeiter und großer Bevölkerungsteile verschaffen.

Irak:

Mit der Installation einer sog. souveränen Regierung, der man vieles nachsagen kann, bloß nicht tatsächliche Souveränität, versucht die Besatzungsmacht, die eine vollkommen zerstörerische Politik gegenüber dem irakischen Volk, der Demokratie und den Unabhängigkeitsbestrebungen im mittelöstlichen Raum treibt, sogar mehr internationale Unterstützung zu gewinnen. [link zu IS 2003-33]. Dieses Manöver kann die brutale Realität allerdings kaum zudecken. Auch bürgerliche Medien üben eine relativ offene Kritik. So schreibt die Asia Times:

„...es gibt relativ wenig Spielraum für die fortgesetzte Präsenz amerikanischer und anderer fremder Truppen nach der Regierungsübergabe. Die USA werden auf absehbare Zeit mindestens 138.000 Mann im Irak behalten (verstärkt durch ungefähr 20.000 aus anderen Ländern), sagte er [Al-Ali, ein Mitarbeiter des neuen irakischen Innenministers, dessen Äußerungen die Asia Times hier anführen]. Vierzehn ständige oder halbständige Militärbasen wurden für sie gebaut oder sind noch im Bau. Diese Kräfte genießen, nach einem in letzter Stunde erfolgten Erlaß Bremers [des Chefs der bisherigen Militärregierung], völlige Immunität gegenüber dem irakischen Gesetz und den irakischen Gerichten.“

„Saad Jawad, Professor für Politikwissenschaft an der Univ. Baghdad, sprach pessimistisch über die Erfolgschancen der neuen Regierung von Premierminister Allawi. ‚Einerseits sind die Minister noch an die Amerikaner gebunden wegen vieler Dinge, die sie brauchen, und andererseits wird man ihnen die Schuld geben, wenn es schief geht’, sagte er. ‚Diese Regierung ist weder gewählt noch unabhängig,’ sagte Jawad. Alles hängt davon ab, ob die Amerikaner ihnen alles geben, was sie für den Job brauchen.’“

„Allawis Regierung wird keine Vollmacht haben, die Interimsverfassung zu ändern [die von Coalition Provisional Authority, der Militärregierung, erlassen wurde], oder auch nur das Übergangsverwaltungsgesetz zu verbessern. Außerdem hat Bremer eine Wahlkommission geschaffen und ernannt, die politische Parteien verbieten kann; er hat dem neuen handverlesenen nationalen Sicherheitsberater und dem nationalen Geheimdienstchef Fünf-Jahres-Amtszeiten eingeräumt; und er hat Generalinspektoren mit fünfjähriger Amtszeit über jedes der 26 irakischen Regierungsministerien gesetzt.“
(meine Übersetzung, Erläuterungen in [ ] von mir hinzugefügt, W. Gr.)

Soweit die Asia Times [http://www.atimes.com/atimes/Middle_East/FF30Ak08.html  “New leaders, old rivalries”]


NATO-Präsenz im Irak abgelehnt

Offenbar gab es bei der NATO-Tagung weiterhin keine Bereitschaft seitens der bisherigen Kriegsopponenten Frankreich und Deutschland, Truppen für die Stützung dieser US-Politik bereitzustellen. Weder werden sie eigene Truppen entsenden, noch hat die NATO als Organisation sich dazu bereiterklärt. Es heißt in der Erklärung der NATO zu Irak:

„Auf das Ersuchen der irakischen Interimsregierung und in Übereinstimmung mit Resolution 1546, die internationale und regionale Organisationen ersucht, der Multinationalen Truppe [der umbenannten Besatzungsmacht] Hilfe zu leisten, haben wir heute beschlossen, der Regierung des Irak die Unterstützung der NATO bei der Ausbildung ihrer Sicherheitskräfte anzubieten....“   (meine Übs.) (http://www.nato.int/docu/pr/2004/p04-098e.htm)

Frankreich und Deutschland selbst wollen lt. Presseberichten lediglich soweit gehen, der irakischen Regierung die Ausbildung von sog. Sicherheitskräften anzubieten, haben aber gleich ausgeschlossen, daß sie diese Ausbildung im Irak selbst vornehmen würden. Insofern sind offenbar Wünsche der Besatzungsmacht, eine zumindest symbolische Präsenz der NATO im Irak zu erreichen,  fürs erste zurückgewiesen worden. Es bleibt aber festzuhalten, daß das US­-Manöver, über die UN den fortgesetzten Zugriff auf das Land legitimieren zu lassen (Sicherheitsrats-Resolution 1546), auch von diesen Staaten mitgespielt worden ist.


NATO-Rolle in Afghanistan und Expansion nach Zentralasien:

Hierzu heißt es in dem NATO-Gipfel-Communiquè:

„Heute haben wir

- beschlossen, die von der NATO geführte internationale Sicherheitshilfstruppe (ISAF) in Afghanistan zu erweitern, einschließlich mittels mehrerer weiterer Provinz-Aufbau-Teams (PRTs) und durch die Verstärkung unserer Unterstützung für die kommenden Wahlen.“

Al Jasira („Franco-US spat highlights Turkey NATO role“, 30.06.04) bemerkt hierzu, daß die ISAF-Truppen von 6.500 auf 10.000 Mann verstärkt werden sollen. Die Türkei spiele bereits eine bedeutende Rolle in Afghanistan und werde eventuell zu der Truppenverstärkung dort beitragen, während sie im Irak keine Truppen bereitstellen wolle. Überhaupt versuche die Türkei, sich für die USA in deren Affären in Mittelost und Zentralasien möglichst unentbehrlich zu machen, und rechne sich Vorteile aus dieser Rolle aus.

Noch interessanter dürfte folgender Absatz aus demselben Dokument sein:

„Bei der Verstärkung der Euro-atlantischen Partnerschaft werden wir unser besonderes Augenmerk darauf richten, uns zusammen mit unseren Partnern in den strategisch wichtigen Regionen des Kaukasus und Zentralasiens zu engagieren. Zu diesem Zweck hat die NATO Übereinstimmung über verbesserte Verbindungs-Abmachungen erzielt, einschließlich der Ernennung zweier Verbindungsoffiziere und eines Sonderbeauftragten für die beiden Regionen aus dem internationalen Stab. Wir begrüßen die Entscheidung von Georgien, Aserbaidschan und Usbekistan, individuelle Partnerschafts-Aktionspläne mit der NATO zu entwickeln. Dies bildet einen bedeutenden Schritt bei den Bemühungen dieser Länder, engere partnerschafltiche Beziehungen mit dem Bündnis zu entwickeln. Wir begrüßen das Reform-Engagement der neuen Regierung Georgiens.“   (http://www.nato.int/docu/pr/2004/p04-096e.htm unter Pkt. 31)

Sicher handelt es sich nicht nur um die Ernennung von Verbindungsoffizieren, sondern um gewichtige militärische und diplomatische Expansionsabsichten. So schreibt z. B. die Asia Times über Überlegungen bei der iranischen Mullah-Diktatur („Iran warms to the NATO card“):

„Was jedoch sicher ist, ist die NATO-Zugeneigtheit von mehreren Nachbarn Irans und die Ost-Richtung der ‚neuen NATO’, die durch eine neue Bemerkung von Pentagonchef Donald Rumsfeld illustriert werden, daß das ‚Gravitationszentrum der NATO sich nach Osten verlagert.’ Die NATO-Länder sind begierig, Zugang zu den Energieressourcen der Region zu bekommen und aufrechtzuerhalten, weswegen die NATO bereits mit der GUUAM-Gruppe (Georgien, Ukraine, Usbekistan, Aserbeidschan und Moldawien) zusammenarbeitet und die Sicherung von Ost-West-Pipeline(s) anbietet. In der Welt nach dem 11. September wird die NATO wahrscheinlich  eine wachsende Rolle in den Sicherheitsfragen Eurasiens spielen, und daher wäre es für Iran ziemlich unklug, die bisherige passive oder indifferente Haltung gegenüber der NATO beizubehalten. Kurz, durch geschickte Diplomatie gegenüber der NATO wird der Iran wahrscheinlich kurz- wie langfristig Vorteile für seine außenpolitischen Ziele und Absichten erzielen.“   (http://www.atimes.com/atimes/Middle_East/FF30Ak09.html)

Den Plänen der NATO zur militärischen Expansion in Kaukausus und Zentralasien, bei denen Staaten wie Deutschland und Frankreich anscheinend nicht die Rolle eines Opponenten der USA wie im Fall des Irak, sondern des Komplizen spielen, muß eine ganz entschiedene Absage erteilt werden. Die Bundeswehr gehört nicht nach Afghanistan, nicht nach Usbekistan, nicht nach Georgien und nicht in die Ukraine, und das gilt ebenso für jedes andere europäische Land.  Es handelt sich um imperialistische Pläne, in der Rolle als Hilfskraft und gleichzeitig Rivale der USA bei ihrer imperialistischen Expansion dort im weiteren selbst stärker Fuß zu fassen. Die US-Pläne richten sich v.a. gegen Rußland und gegen China und stellen eine Vorbereitung zu imperialistischen Kriegen und Umstürzen dar, die größte Ausmaße erreichen können, wobei europäische Verbündete Hilfstruppen stellen sollen, gelockt durch die Aussicht, einige Brocken für sich selbst zu ergattern und die USA natürlich im geeigneten Moment zu hintergehen. An dieser schmutzigen Politik des Kapitalismus hat die große Mehrheit der Bevölkerung Europas kein Interesse, sie würde ihr nur Unheil bringen.

Die Tagung äußerte sich auch zu den Ergebnissen von früheren Vorstufen der jetzigen NATO-Politik, nämlich in Bosnien-Herzegowina und in Serbien, und hatte die Stirn zu folgender Darstellung:

„Wir haben

- beschlossen, die erfolgreiche SFOR-Operation des Bündnisses in Bosnien und Herzegowina abzuschließen, und haben die Bereitschaft der Europäischen Union begrüßt, eine neue und andersartige, von der UN gemäß Kapitel VII mandatierte Mission in dieses Land zu entsenden, die auf dem Berlin+-Abkommen zwischen unseren beiden Organisationen beruht;

- bekräftigt, daß eine robuste KFOR-Präsenz für die weitere Verstärkung der Sicherheit und die Förderung des politischen Prozesses im Kosovo wesentlich bleibt;...“

Das politische, wirtschaftliche und moralische Elend, das die NATO-Mitglieder mit ihren „Operationen“ und dem Krieg vom 1999 den betroffenen Völkern auferlegt haben und weiter auferlegen, ist eine absolute Anti-Erfolgs-Story und in Wirklichkeit ein warnendes Beispiel für die Völker des Kaukasus, Zentralasiens und anderswo, die sich mit Plänen der NATO, die sie nunmehr selbst betreffen, auseinandersetzen müssen.

Wegen des Unwillens großer Teile der türkischen Bevölkerung gegenüber den USA und der NATO mußte die Tagung mit einem enormen Polizei- und Militäraufgebot gesichert werden. Zigtausende Demonstranten zeigten deutlich, welche Gefahr sie in den USA und in dieser NATO sehen. Das türkische Volk muß unbedingt in seinem Widerstand unterstützt werden. Dieser Aufgabe wird im Zusammenhang mit der geschilderten USA- und NATO-Politik sicher immer größere Bedeutung zukommen

W. Grobe
30.6.04

 

 

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