Internet Statement 2005-81 Fortsetzung in Teil 2 - Dezember 2006
Die Verhandlungen der Europäischen Union mit der Türkei Symptomatisches über Machtverhältnisse und ihre Ursprünge (I) Hartmut Dicke
Über die internationalen Widersprüche Die Frage der Europäischen Union und ihres sozialen Charakters besteht für die arbeitende Klasse wie auch die Nationen als Ganze in allen Ländern dieses Staatenbundes. Welchen Weg nimmt diese EU? Was ist ihr hauptsächlicher Charakter? Wie soll man sich zu ihrer Entwicklung inbesondere im letzten Jahrzehnt stellen? Die Diskussion über das
Verhältnis zur EU ist unter den Vertretern der sozialen Revolution
der arbeitenden Klasse seit über 40 Jahren im Gange. Im Jahre 1957
wurde die ursprüngliche Europäische Union (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft)
nach einer Vorbereitungsphase geschaffen. Sechs Staaten, Frankreich,
die Bundesrepublik Deutschland, Italien, die Niederlande, Belgien
und Luxemburg wurden eng miteinander verklammert. Dies erfolgte in
einer Zeit, als die USA und die Sowjetunion sich gegenüberlagen und
die EU und das ganze westliche Europa unter der Vorherrschaft der
USA standen. Bis zum heutigen Tage, d.h. auch zu Zeiten der erweiterten
EU, hat sich die grundsätzliche Stellung der offiziellen Unterordnung
unter die USA nicht geändert. Schon bei den Vorläuferorganisationen
wurde fest definiert, daß das atlantische Bündnis die Grundlage diese
europäischen Bündnisses im Westen sei, und noch jetzt, in der abgelehnten
EU-Verfassung, heißt es, daß die Verklammerung der Europäischen Union
unter der NATO und den USA von allen Bestimmungen der EU unberührt
bleibt und unanfechtbar ist. Dies sagt zum einen natürlich etwas aus
über die EU, aber es wäre vollkommen verkürzt geschlußfolgert, die
EU damit zum reinen Lakaien der USA zu machen, es hat sich in all
den 40 Jahren gezeigt, daß sich deutliche Widersprüche entwickelten
und unter dieser Verklammerung die europäischen Staaten eine gewisse
Unabhängigkeit gegenüber den USA und überhaupt gegenüber den Atommächten
wahren konnten. Immer wieder gab es unter den Kommunisten den Schlachtruf: ‚Raus aus der EU’ – „weil es ein kapitalistisches Bündnis“ sei, ‚Raus aus dem Europa der Monopole’, und ähnliche Schlagworte. Einher gingen damit zuweilen Losungen wie z.B. „Für ein unabhängiges sozialistisches Deutschland!“. Gegenüber der Verschmelzung kapitalistischer Länder innerhalb eines internationalen Prozesses der Globalisierung der gesamten Ökonomie, die das ganze 20. Jahrhundert in außerordentlichem Maße bestimmt, können Kommunisten sich unmöglich auf den Standpunkt stellen: wir sind für das Verbleiben des Kapitalismus auf der reinen Stufe des Nationalstaates. Das ist eine unsinnige, rückwärtsgewandte Stellung, die keinen Bestand haben kann. Die Arbeiterklasse, die selbst international immer sich zu organisieren bemüht war, kann nicht revolutionäre Vertreter hervorbringen, die auf einen nationalen Separatismus hinarbeiten. Die Befürwortung einer nationalen Separierung wäre nur dann gerechtfertigt, wenn diese zu einer Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse führen würde, was im Extremfall einer völlig degenerierten, die Entwicklung blockierenden EU gültig wäre, und keine andere Möglichkeit bestehen würde. In der Regel würde man zunächst einmal eine Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse auf der Ebene der EU selbst zu erreichen suchen. Wenn man sagte ‚wir wollen
kein Europa der Monopole’, dann mußte man auf diesen Einwand antworten:
es herrscht längst ein Europa der Monopole, und zwar auch ohne die
EU, weil alle diese Nationalstaaten von dem modernen monopolkapitalistischen
Kapitalismus beherrscht sind. Dieser moderne monopolkapitalistische
imperialistische Kapitalismus, der sich zu Ende das 19 Jahrhunderts
herausentwickelte, herrscht mit und ohne Nationalstaat, mit und ohne
EU. Die Losung ‚weg von der EU, hin zum nationalstaatlichen Kapitalismus’
besagt in ihrer Substanz immer reaktionäre Illusionsmacherei, als
könne man zum nationalstaatlichen, ja möglicherweise vormonopolistischen
nationalstaatlichen Kapitalismus zurückkehren. Wer solche Illusionen
nährt, der sitzt mit der Reaktion schon fast in einem Boot. Und was
für ein „unabhängiges sozialistisches Deutschland“, oder was für ein
„unabhängiges sozialistisches Dänemark“ oder „unabhängiges sozialistisches
Italien“ soll es denn geben? Kann man sich denn vorstellen, daß sich
ein einzelner Staat heraussondert, eine sozialistische Ökonomie aufbaut,
und dies in einem kapitalistischen Umfeld mitten auf dem nationalen
Flickenteppich Europa? Die Losung „Für ein unabhängiges sozialistisches Deutschland“ taucht übrigens auch bei kleinbürgerlichen Nationalisten und sogar „völkischen Nationalisten“ auf, die derartige isolationistische Illusionen nähren. Diese Feststellungen bedeuten
natürlich nicht daß die Kommunisten etwa uneingeschränkt die Verbindung
der kapitalistischen Länder in Europa gutheißen und sich zu einer
Akklamation für die kapitalistische Integration hinreißen lassen.
Es gilt dabei zu differenzieren und die Unterschiedlichkeit der Aspekte
zu betonen. Auf einen kurzen Begriff gebracht, ist die Haltung also die: Unabhängigkeitsbestrebungen werden gefördert, imperialistische Unterdrückerpolitik und Ausbeutung werden bekämpft. Auch die Politik Europas, sich in den Windschatten der USA zu stellen, Friedensheuchelei zu betreiben und gleichzeitig in opportunistischer Weise an der internationalen Ausbeutung teilzunehmen und die USA dabei als Militärmacht vorzuschieben, muß in ihrer ganzen Heuchelei und Niedertracht entlarvt werden. Dies ist gerade das Typische des bürgerlichen und kleinbürgerlichen Spießers, auch des arbeiteraristokratischen Arbeiters in Europa, daß er sich hinstellt und sagt: wir sind nicht so aggressiv wie die USA; wir profitieren nur ein bißchen überall mit und sind eine „Macht des Friedens“, und man muß dann stillschweigend hinzufügen, eine Macht, die sich auf Kosten anderer bereichert. Diese Mentalität allerdings ist etwas, was als grundsätzliches stinkendes Übel in Europa in allen Ländern kritisiert werden muß. Diese Haltung, die in unserer Organisation schon 1973 erstmalig formuliert wurde [1] in einem gewissen Umfang unter dem Einfluß der damaligen KP Chinas, aber mindestens ebenso aufgrund eigener politischer Erfahrungen, hat sich auch überall immer weiter durchgesetzt. Es gibt nur noch wenige Parteien, die die EU rundherum ablehnen und rufen: „Raus aus der EU!“ (also für den nationalstaatlichen Kapitalismus). Dies ist als kleinbürgerliche und nach hinten gerichtete eigensüchtige Losung schon enttarnt. Diese EU ist allerdings
nicht nach dem politischen Entwurf einer proletarischen Organisation
entstanden, die Einfluß auf die bürgerlich-demokratische Revolution
genommen hat, sondern sie ist ein Produkt der Nachkriegshegemonie
der USA, was an allen Ecken und Enden zu spüren ist. Aber dennoch
hat die EU eine ökonomische Verschmelzung geschaffen und damit eine
Reihe von politischen und ökonomischen Fakten, und es ist richtig,
wenn bürgerliche Journalisten zuweilen schreiben, daß die Verklammerung
von Frankreich und Deutschland und Italien einer der wesentlichen
Punkte war, warum kein Krieg in Europa ausgebrochen ist. Wenn es gelingen
würde, dies aufzusprengen und die verschiedenen europäischen Staaten,
z.B. unter den Bedingungen einer Erweiterung, wieder gegeneinander
aufzubringen, würde auch in Europa die Lage drastisch erschwert werden.
Ein Krieg in Europa oder gegen Europa, bei dem Deutschland und Frankreich
verklammert sind, ist äußerst schwierig. In dem Moment, wo es gelingt,
die Staaten wieder gegeneinander aufzubringen, würden auch in Europa
„libanesische“ Verhältnisse im großen Format wieder möglich werden.
Deswegen hat die arbeitende Klasse kein Interesse daran, etwa in diesen
Punkten der Verklammerung Europas, Deutschlands und Frankreichs, wieder
rückwärts zu gehen. Vielmehr sollten die Verbindungen in der EU und
die Gleichberechtigung in der Staatsbürgerschaft dazu genutzt werden,
in ganz anderem Umfang als bisher Kontakte zu entwickeln und die internationale
Arbeiterbewegung auch in Europa aufzubauen oder besser gesagt, in
einer neuen Weise zu rekonstruieren. Wir betonen gleich vorweg bei dieser Gelegenheit, daß dies auch unter den Bedingungen des selbstverständlichen internationalen Austausches nur ein Europa der Anerkennung der Nationen sein kann. Die Nationen müssen als die Grundlage dieses Staatenbündnisses angesehen werden. Würden diese Nationen als die Grundlage verschwinden, würde Europa in der gegenwärtigen geschichtlichen Periode seinen Zusammenhalt als ganzes verlieren, denn eine europäische Nation in dem Sinne wie in den USA eine amerikanische Nation existiert, ist aufgrund ganz anderer geschichtlicher Bedingungen hier unter den heutigen Bedingungen nicht möglich. Die revolutionären Kräfte
in Europa sind also dafür, den sozialen Kampf, den Kampf der arbeitenden
Klasse bei aller Unterschiedlichkeit zusammenzufügen und möglichst
zu einer gegenseitigen Unterstützung der unter ganz verschiedenen
Bedingungen kämpfenden Arbeiter und Angestellten
dieser Staaten zu kommen. Was die Unabhängigkeit angeht, so
sind sie dafür, daß eine klare Unabhängigkeitspolitik heutzutage insbesondere
gegenüber den USA betrieben wird, und daß die Abhängigkeit von irgendwelchen
Mächten sowohl im Militärischen als auch bez. der Versorgung mit Grundstoffen,
durch welche Mächte auch immer, bekämpft werden muß. D.h. die Arbeiterklasse
hat durchaus ein Interesse an politischen Fragen Europas, da der Status
dieses Staatenbündnisses und der Einzelstaaten Rückwirkungen auf ihre
eigene Stellung hat. Es ist mit der Stellung des Proletariats wie
überhaupt in der nationalen Frage so, daß in einem abhängigen, national
unterdrückten Land die Fragen der nationalen Unabhängigkeit immer
nach vorne rücken müssen und den Kampf um die soziale Frage behindern.
Deshalb tritt das Proletariat in der ganzen Welt für die Unabhängigkeit
der Länder, der Staaten auf der internationalen Ebene ein, und zugleich
bekämpft es alle Versuche der Hegemonie und der Bevormundung anderer
Länder. Solche Ausführungen sind notwendig, wenn man versucht, die jetzigen Ereignisse um den Eintritt in die Beitrittsverhandlungen der Türkei zu Europa zu analysieren und zu bewerten. Wenn wir hören, daß eine
islamisch-fundamentalistisch beeinflußte Regierung den Beitritt zu
Europa fordert, dann allein schon muß dies die arbeitende Klasse hellhörig
machen. Es geht aber nicht nur um die inneren Verhältnisse der Türkei,
die von Militärdiktatur und Fundamentalismus als konkurrierenden
Formen der Unterdrückung innerhalb der Türkei bestimmt sind. Es geht
um viel mehr, da türkische Minoritäten in bedeutendem Umfang in einer
Reihe von Ländern leben unter ganz spezifischen Bedingungen und ein
nicht unwichtiges Moment der inneren Lage dieser Länder bilden. Wenn
der türkische Ministerpräsident Erdogan sich herausnimmt, in den Verhandlungen die USA anzurufen,
damit sie innerhalb der Beitrittsverhandlungen die Türkei gegenüber
den europäischen Vertragsstaaten unterstützen, d.h. den Oberherrn
anzurufen, damit er bei den, mit Verlaub zu sagen, untergeordneten
Staaten vorstellig wird, dann ist höchster Alarm schon allein deswegen
gegeben. Was hat es denn mit einem Staat auf sich, der schon bei
den Verhandlungen die USA anruft? Was wird er erst tun, wenn er Mitglied
ist? Diesmal können wir sogar mit der „Financial Times“ beginnen, die sich sonst gern als Pacemaker der USA in Europa versteht. Sie kommt nicht umhin, dies offenkundige Verhalten zu kritisieren:
In ebenso deutlichen Worten heiß es in einem „Handelsblatt“-Artikel “Streit der Europäer macht die Türken ratlos” vom 4.10.05 mit einer hervorgehobenen Zwischenzeile:
Und schließlich die „Junge Welt“, das Blatt der Revisionisten, sie schreibt am 4.Oktober:
Wenn das Proletariat für
eine relativ unabhängige Stellung der europäischen Länder und des
Staatenbundes eintritt, und es tritt eine Macht auf, die von Anfang
an sich als Hilfsmacht der USA versteht, dann ist die Stellung aller
progressiven Kräfte zu solch einem Beitrittsversuch schon von dieser
Seite her vollkommen klar. Sie kann nur lauten: Eintritt auf dieser
Basis vollkommen abbrechen. Mit welchen inneren Auswirkungen unter
diesen Bedingungen zu rechnen ist, damit
werden wir uns im zweiten Teil befassen. Es hat auch einen besonderen
Auftritt der österreichischen Regierung gegeben, die bestimmte Forderungen
im Zusammenhang mit dem Beitritt aufstellte. Danach gab es auch eine
entsprechende Verurteilung des „Sonderauftretens eines kleinen Landes“
und eine entsprechende Schelte von seiten der US-Medien. Diesem müssen
wir nun in seinen Hintergründen auch Augenmerk schenken. Dies sollte
in unseren Augen von kommunistischen Organisationen nicht unbeachtet
gelassen werden ohne eine Stellungnahme. Die politischen Rahmenbedingungen
Europas gehen alle Kräfte der Arbeiterklasse unmittelbar etwas an.
Zu vertreten, diese Konflikte solle die Bourgeoisie unter sich austragen
und sie gingen die arbeitende Klasse nichts an, hieße gänzliche politische
Infantilität zu verbreiten. Es ist ja bekannt, daß Kräfte des modernen
Revisionismus die Hegemonie gefördert haben, den Zugriff der USA auch
auf den europäischen Kontinent gefördert haben und politisch-ökonomisch
dieser Hegemonie das Etikett „Regime des Friedens“ umgehängt haben
und damit de facto sogar die dominante Rolle der USA bei der internationale
Unterdrückung gefördert haben. 1938, auf einem folgenden Parteitag, sagte Browder in der offiziellen Rede:
Wir sehen hier schon früh einen der Hauptzüge des modernen Revisionismus, der faktisch von Anfang an den US- Imperialismus und seine Vorherrschaft begünstigte, die Revolution auf der Welt und namentlich in Europa untergrub. Er tauchte nach dem Krieg um so manifester auf, um schließlich in Form der revisionistischen Sowjetunion zu erscheinen, die unter Chruschtschow und Breshnew diese Prinzipien sehr offen wiederaufnahm, zur engen Kollaboration mit den USA überging, und schließlich in der Epoche der Schwäche der USA selbst als die zumindest zeitweilige hegemonistische Macht entstand. Man schlich den USA hinterher, um sich selbst an die Stelle zu setzen. So läßt sich die damalige Kritik der KP Chinas wie auch überhaupt der prinzipienfesten kommunistischen Parteien der damaligen Zeit zusammenfassen. Bei der Kritik am sowjetischen
Revisionismus war die Komplizenschaft mit den USA immer einer der
zentralen Punkte. Der ganze moderne Revisionismus seit den 30er Jahren
spiegelt sich in einer solchen Anhimmelung des USA-Imperialismus und
seiner Förderung wider, auch wenn er zwischendurch versucht hat, auf
die eigenen Füße zu kommen und sowjetische revisionistische Großmachtpolitik
zu betreiben.
Seht her, will uns wohl
der Autor Arnold Schölzel sagen, „mit der
rechtlichen Ratifikation“ habt „ihr“ zwar den „DDR-Anschluß“ bekommen,
aber zugleich auch die unipolare Herrschaft der USA mit den Folgen.
[1] Vgl. hierzu Klaus Sender „Die internationale Lage, Europa und die Stellung der marxistisch-leninistischen Parteien“ erschienen im Nov. 1973 zum Schriftenverzeichnis [2] Übersetzung: FT 5.10.05 "Europäische Diplomaten runzeln die Stirn wegen des US-Engagements
beim Verhandlungsabschluß [3] Zitiert nach „Die Kommunistische Internationale“, Bd. 8 Artikel von Sydney Bloomfield zum X. Parteitag 26.bis 31. Mai 1938 in New York
|