Internet Statement 2006-34

 

Nachbetrachtungen zum 1. Mai

Zunehmende Entpolitisierung?
                                                                                                8.Mai 2006

Zum 1. Mai 2006 sind wieder unzählige große und kleine Statements geschrieben worden. Der Zustand der revolutionären Bewegung hat sich noch nicht wesentlich verändert. Es ist aber notwendig, auf einige Veränderungen einzugehen, die an den 1. Mai-Kundgebungen in Berlin zu beobachten waren. Auffällig die immer weiter zu beobachtenden Bemühungen der Gegenseite, den 1. Mai zu entpolitisieren.

Auf der DGB-Kundgebung wurden wie immer schöne Reden gehalten von Leuten, die sich weitgehend diskreditiert haben und von denen bekannt ist, daß sie im Zweifelsfall an den schlimmsten sozialen Eingriffen teilhaben. Es gibt aber auch kleinere Beobachtungen, die alarmieren sollten. Bei den bisherigen Anlässen war der 1. Mai-Platz vor dem Roten Rathaus ein Gemisch aus allen möglichen gewerkschaftlichen Organisationen, revolutionären Gruppen, sowie auch Imbißständen und sonstigen Informationsständen, die durcheinander standen. Die linken Organisationen standen unter vielen anderen Ständen mittendrin. Jetzt hat man bei der Maikundgebung am Brandenburger Tor eine Maßnahme ergriffen, die nicht widerspruchslos im weiteren hingenommen werden sollte. Die revolutionären Gruppen wurden abgetrennt, ungefähr einhundert Meter von der übrigen Kundgebung weiter nach Westen versetzt, etwa in Höhe des sowjetischen Mahnmals, und standen unter sich. Separierung ist ein erster Schritt zur Beseitigung, darüber sollte man sich im klaren sein. Im weiteren sollte man sich soweit wie möglich dagegen wehren.
Die 1. Mai-Kundgebung hat Tradition, und die Vielfalt der Meinungen war ein gewisser Vorzug, wenn auch sonst das ritualisierte Geschehen kaum noch Menschen sonderlich berührte. Indem man aber die revolutionären Gruppen in ein Sonderabteil steckt und nach Möglichkeit wegschiebt, bereitet man die Beseitigung ihrer Informationsstände oder vielleicht sogar weitergehende Repressalien vor.
Obwohl die DGB-Demonstrationen so ritualisiert und schwach sind und man hier an der Spaltung arbeitet, so war doch in einem Teil der Medien eine heruntermachende Hetze gegen die DGB-Demonstrationen überhaupt zu vernehmen. Diese wurden als völlig veraltete Demonstrationsformen dargestellt, von denen der DGB und die Gewerkschaften starrköpfig nicht lassen wollten, als Rituale einer überkommenen Arbeiterbewegung und ähnlich. Es gibt also in den Medien und damit in den Parteien genug Leute, die die 1.Mai-Demonstrationen ganz abschaffen möchten. Ihnen ist jeder, selbst jeder verbale Protest zu viel. Und das zeigt um so mehr, daß in der Zukunft Demonstrationen, und zwar wirksamere, stattfinden müssen.
Ritualisierte Demonstrationen bringen wenig, sie können sogar schaden, aber wenn man insgesamt den Demonstrationen an den Kragen will, dann ist das das von noch viel größerem Schaden. Das muß verhindert werden.


Entpolitisierung gab es auch massig bei dem sog. Kreuzberger 1. Mai am Mariannenplatz, am Lausitzer Platz usw. Da bewegen sich Hunderttausende auf den Straßen bei einer Art Volksfest, aber es ist der unpolitischste Mai überhaupt, noch unpolitischer als der des DGB. Hier gemütliche Atmosphäre bei Würstchenbuden, Folkloretanz oder auch Bandmusik - und da die Realität der prekären Jobs, die immer weiter verschlechterten Bedingungen auf allen sozialen Gebieten, der Knüttel der Schuldenerpressung von Seiten der staatlichen Organe als täglicher Hintergrund für die verschärften Repressalien, die viele betreffen? Der 1. Mai absolut unpolitisch – merkwürdig!

Vor zehn Jahren war die soziale Situation bei weitem nicht so angespannt, aber man war wacher als jetzt. Jetzt haben wir den langweiligsten 1. Mai in Kreuzberg, den es je gegeben hat. Das hat natürlich etwas mit der bisherigen Entwicklung zu tun. Die sog. Gewaltaktionen von Kreuzberg haben wir viele Male kritisiert, weil kein Mensch wußte, wozu sie eigentlich gut sind. Es ist keinerlei revolutionäre Handlung, irgend jemandem sein Auto anzustecken oder irgendwelche anderen Brandstiftungen zu begehen. Hinter dieser Art von „Gewalt“ stand schon immer das größte Fragezeichen.
Auch diese Aktivitäten wirkten entpolitisierend, sie haben von den tatsächlichen Verhältnissen abgelenkt. Jetzt aber ist die große Pazifizierungswelle im Gang: „Myfest“, „Mayday“ als völlig banaler 1. Mai der sog. Linkspartei und auf ihrem Niveau stehend. In der Tat muß man in den kommenden Jahren versuchen, wieder einen politischen und wirklich aufklärerischen 1. Mai zu schaffen. So geht das nicht weiter.

Es ist auch unabdingbar, noch einmal, so wie wir das in früheren Jahren schon gemacht haben, auf die Aufrufe der angeblich. revolutionären 1. Mai-Demonstration einzugehen. Das Volksfest sollte auch diese Demonstration untergraben und ihr die Möglichkeit nehmen. Allerdings kann man die Aufrufe, die dort erlassen werden, z.B. von den Autonomen, nicht mit Schweigen übergehen. Wir finden hier die übliche oberflächliche Rede über soziale Probleme, wobei vollkommen offen bleibt, mit welchen Kräften man hier wirklich an deren Beseitigung gehen kann, immer wieder, wichtiger als dies, die Anbiederung an die reaktionären Kräfte, die auch unter den ausländischen Bevölkerungsteilen, den sog. Migranten, existieren. Völlig unkritisch wird diese Gesellschaft betrachtet.

In dem Aufruf der Autonomen „Heraus zum 1. Mai!“ (Abends) wird zunächst unter „Neue Weltordnung“ der imperialistische Ideologe Samuel P. Huntington zitiert und angeführt, daß die USA und die europäischen Regierungen die Durchsetzung ihrer imperialistischen Politik betreiben. Wir haben aber inzwischen eine Situation, in der auch formal keineswegs mehr nur die USA das alleinige Sagen haben, sondern es tritt die sog. multipolare Struktur hervor. Und diese besteht nicht nur und nicht vorwiegend aus der Konkurrenz zwischen Europa und den USA, sondern wir haben auch Kräfte wie China, wie Rußland zu berücksichtigen, die deutlich als neue Imperialisten auftreten, sowie Kräfte wie Indien, mit denen neue Potentiale heranwachsen. Kein Wort darüber bei den Autonomen.

Und es heißt dann weiter:

„Das Beispiel der Rütli-Schule zeigt, daß das Feindbild in den Medien der Herrschenden 'fremde Kulturen' sein sollen, damit ideologische Kampflinien ausgeblendet werden.“

An anderer Stelle sogar:

„Angesichts einer massiven kulturrassistischen Hetze (Stichwort Rütlischule) ist es heute umso notwendiger, sich nicht spalten zu lassen.“

Wer betreibt hier eine kulturrassistische Hetze? Die Autonomen wollten noch nie wahrhaben, daß dieser Staat, diese Gesellschaftsordnung schon seit über 30 Jahren zugleich mit der Hereinziehung der Migranten aus der Türkei und anderen Ländern des Mittleren Ostens systematisch reaktionäre Kräfte unter ihnen unterstützt und sie aufgebaut haben, darunter insbesondere auch islamischen Fundamentalismus. Und diese reaktionären Strukturen existieren unter den Migranten, sie haben teilweise faschistischen Charakter, und sie stehen in ihrer praktischen Bedeutung keineswegs etwa irgendwelchen Neonazis in der deutschen Bevölkerung nach. Im Gegenteil, was den Masseneinfluß angeht, ist der ihre größer. Nirgendwo wird bei den Autonomen von einem solchen Klassenkampf innerhalb der Migrantengesellschaft gesprochen. Er wird ignoriert, und somit werden die Reaktionäre gedeckt.

Und wer betreibt eine kulturrassistische Hetze im Zusammenhang mit deutschen Schulen? Türkische Rechte und Fundamentalisten – nicht zu vergessen bestimmte sog. Linke, die in deren Fußtapfen treten -, die die Separierung der türkischen oder libanesischen Bevölkerung von der deutschen systematisch betreiben, betreiben eine kulturrassistische Hetze. Es gibt mannigfache Bestrebungen von seiten dieser Reaktionäre, den Bevölkerungsteil der Türken, Libanesen usw. systematisch von der Kultur und der politischen Zusammenarbeit mit der Mehrheitsbevölkerung zu trennen, auch von den übrigen aus dem Ausland stammenden Bevölkerungsgruppen.

Ist etwa die Aufdeckung der „Ehrenmorde“, die auch hier in der Presse relativ breiten Raum eingenommen hat, nachdem man sie jahrelang verschwiegen hat, auch eine Form von kulturrassistischer Hetze, oder ist sie die schließlich erzwungene Aufdeckung von Reaktion, die unter Bevölkerungsgruppen herrscht, die aus dem Ausland stammen? Nirgendwo gibt es unter den sog. Autonomen auch nur eine Spur von Kritik an diesen Kräften. Und wenn man bedenkt, daß die systematische Separierung der türkischen Bevölkerung von der übrigen Bevölkerung Teil der Absichten der reaktionärsten Kräfte innerhalb dieser Gesellschaft ist, dann kann man etwas ahnen darüber, wo die Hintergrundverbindungen der sog. Autonomen - jedenfalls derjenigen, die sich in solchen Aufrufen äußern - liegen. Wir kommen nur voran, wenn die progressive deutsche, türkische und arabische Bevölkerung sich zusammenschließt im Kampf gegen die Reaktion, und das heißt auch gegen die Reaktion in der eigenen Bevölkerungssgruppe. Hinter dem radikalen Wortgeklingel dieser Autonomen-Aufrufe steckt selbst ein ganz erhebliches Stück Reaktion.

Was in der Rütlischule sich zugetragen hat, trägt sich in schwächerer Form an vielen anderen Bildungseinrichtungen zu. Die Separierung von türkischen oder anderen islamischen Schülern aufgrund des kulturellen Drucks innerhalb dieser Gemeinschaften selbst ist eine Tatsache, mit der viele Schulen sich herumschlagen müssen und für man die Schulen nicht verantwortlich machen kann. In diesem Zusammenhang von kulturrassistischer Hetze zu reden, heißt in Wirklichkeit im elementaren Sinne Hetze gegen die Demokratie zu betreiben.

Wenn wir also für die Zukunft eine Politisierung brauchen, dann brauchen wir auch eine Abrechnung mit diesen Strömungen, die sich als superrevolutionär geben, in Berlin lange Zeit eine Art Meinungsdominanz unter den Linken hatten, und in Wirklichkeit Untergrundkanäle zu den rechtesten Kräften der Gesellschaft unterhalten.
„Autonom“ von was? Autonom vom Volk und abhängig von irgendwelchen reaktionären Kräften – so kann man das zusammenfassen. Wir wollen natürlich nicht unterstellen, daß alle Leute, die bei den Autonomen sind, derlei Haltung haben, aber man muß den Betrug in der Sache aufdecken.

Schließlich noch eine Bemerkung zur 13-Uhr-Demonstration, die dieses Mal auch in stark geminderter Zahl stattgefunden hat und auch von Anfang an unter starkem „Polizeischutz“ marschieren mußte. Der Aufruf zu dieser Demonstration leugnet gleichfalls jede Art von proletarischem Klassenkampf und stellt, wie in diesen und anderen Kreisen üblich, eine gefühlsmäßige Opposition gegen den Kapitalismus heraus. Es geht dabei um „Visionen“, um gefühlsmäßigen Protest und um die Sehnsucht nach einer „anderen Welt“. Wir haben aber keine „andere Welt“, sondern wir haben nur eine Welt, in der wir heute leben und aus der heraus sich das Neue entwickelt, das wir repräsentieren müssen.

Auch auf dieser Demonstration kommt es zu den separatistischen Aufrufen und Sprechchören, die die Reaktion unter den Bevölkerungsgruppen aus dem Ausland decken, die Mehrheitsbevölkerung in diesem Land provozieren und andere negative Reaktionen hervorrufen müssen. Mögen doch die Initiatoren dieser Demonstration endlich einmal diese Dinge bedenken!

Redaktion Neue Einheit - hd


 

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Der 1. Mai 2006  
IS 2006-31 - 30.4.2006

Gedanken zum 1. Mai
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Gewerkschaften und Globalisierung Uwe Müller, 1. Mai 2006