Internet Statemment 2006-72

 

 

Ungarisches Wetterleuchten

 

Walter Grobe, 20.9.2006

Was dieser Tage aus Ungarn gemeldet wird, überschreitet offenbar den bisherigen EU-üblichen Rahmen von regierungsamtlichen Märchenstunden, parlamentarischen Hickhacks und eingeplanten Protestdemonstrationen.

Die Veröffentlichung einer internen Rede des ungarischen Ministerpräsidenten Gyurcsany vom Mai 2006, die an Zynismus kaum zu überbieten ist, hat Proteste in der Hauptstadt Budapest und im ganzen Land ausgelöst. In Budapest kam es zur Stürmung des staatlichen Fernsehsenders mit Brandstiftung und Auseinandersetzungen mit der Polizei. Die Proteste werden seitdem unter Verschärfung der polizeilichen Abwehr fortgesetzt.

Gyurcsany sagte nicht mehr und nicht weniger, als daß seine Regierung seit eineinhalb bis zwei Jahren über die wirtschaftliche Realität des Landes das Volk bewußt betrogen habe, aber jetzt, nachdem sie auf diese Weise die Wahlen gewonnen habe, müsse sie sich zum offenen Angriff auf das Volk formieren. Unsere kapitalistischen Medien finden das, nebenbei bemerkt, eigentlich ganz clever. Zu den angekündigten Maßnahmen gehören:

- Erhöhung der Mehrwertsteuer von 15 auf 20%
- Sondersteuern, die auch kleine und mittlere Unternehmen betreffen
- Zusammenstreichung der Krankenversorgung
- Einführung von Studiengebühren
- Massive Preissteigerungen, die vor allem bei den Lebensmitteln, der Energieversorgung und im Verkehr zu erwarten sind.

Wenn die ungarische Regierung vor allem den Druck der EU auf Haushaltssanierung anführt, der keine Alternativen als diese sog. Sparpolitik offenlasse, dann ist das nur ein Teil der Wahrheit, es ist nur die Oberfläche. Der kapitalistische Hintergrund muß aber klar werden.

Was dem ungarischen Volk jetzt zugemutet werden soll, ist Ergebnis der ganzen Entwicklung der letzten 15-20 Jahre. Nach dem Zusammenbruch des früheren bürokratischen Kapitalismus, eines sog. Sozialismus, der im wesentlichen noch von der Sowjetunion abhing, war Ungarn wie auch die anderen osteuropäischen Länder dem Zugriff des westlichen Kapitals mehr oder weniger freigegeben. Das deutsche Kapital wie auch das der USA spielen dabei die Hauptrolle. Es dürfte wenige deutsche Konzerne wie auch mittlere Kapitalisten geben, für die Ungarn seitdem nicht als Standort für Produktionsverlagerungen und als Absatzmarkt interessant ist. Ein guter Teil der fantastischen Profitentwicklungen der letzten Jahre verdankt sich den Ausbeutungsbedingungen in Osteuropa, unter denen Industrielöhne von 100 oder 200 Euro nicht selten sind; im Durchschnitt betragen die Löhne in Ungarn laut amtlichen Mitteilungen weniger als ein Fünftel der deutschen, völlige Steuerfreiheit zumindest für große Konzerne versteht sich von selbst, usw.

Selbstverständlich geht dieser Kapitalismus auch gnadenlos an die früheren Verpflichtungen der Unternehmen und des Staates für Bildung, medizinische Versorgung, Renten und sonstige Sozialleistungen ran. Offenbar wurde bisher, wie auch in anderen Ländern, die bescheidene Höhe dieser Leistungen seit langem nur noch durch immer höhere Staatsschulden zum Schein aufrechterhalten. Wenn Gyurcsany nun sich selbst und seine Cliquen der tatenlosen Aufhäufung von Schulden zeiht und ihnen erklärt, der Angriff auf das Volk sei ohne Alternative, sie müßten das zusammen durchstehen, dann lügt er bestimmt ausnahmsweise nicht; die eigene Regierung aber als etwas Besonderes in der EU zu bezeichnen, ist schon wieder die Unwahrheit. Man braucht nur an die Lage der Staatsfinanzen in Deutschland zu denken, um in der EU mindestens einen weiteren Club systematischer Lügner ausfindig zu machen: unsere sämtlichen aufeinanderfolgenden Regierungen und ihre tragenden Parteien.

Hier wächst ebenfalls ein echter Staatsbankrott heran, vor allem, weil die Auswirkungen des jahrzehntelangen Abbaus der industriellen Produktion und der immer weiteren Ausdehnung der Massenarbeitslosigkeit bis heute mit sog. Sozialleistungen überdeckt wurden, die aus Staatschulden finanziert werden. Die Märchen über deren Fortsetzung bröckeln seit einigen Jahren, aber die massive Aufkündigung der offiziellen Illusionsmacherei, die Art von Streichungen, die massiv an die Existenz von großen Menschenmassen gehen, steht erst noch an. Darüber kann das dümmliche Konjunkturgejubel der offiziellen Stellen nicht hinwegtäuschen. Die Krise geht tief, das Kapital steht in der internationalen Konkurrenz und muß seine Profite auf Kosten der Staatshaushalte und Sozialleistungen höher treiben, sonst geht es unter.

Längere Zeit dürfte in Ungarn wie auch anderen osteuropäischen Ländern die Dominanz des ausländischen Kapitals, die Nutzung der ungarischen Arbeitskräfte für ausgelagerte Produktionen noch als halbwegs tolerabel hingestellt worden sein, indem man sagte: die Produktion wächst doch, die Arbeitslosigkeit vermindert sich, auf die Dauer werden also Löhne und Lebensniveau steigen. Pustekuchen. Längst schon operiert das internationale Kapital inzwischen gegenüber den ungarischen Werktätigen wie auch den polnischen oder tschechischen Kollegen so ähnlich, wie es hier operiert, mit der internationalen Erpressung. ‚Ihr seid inzwischen zu teuer, auch Ungarn ist ja fast schon ein Hochlohnland, es bleibt uns nichts übrig als die Produktion, die vor ein paar Jahren zu Euch gekommen ist, jetzt weiterzuverlagern, bspw. in die Ukraine oder noch weiter nach Osten in die asiatischen Länder mit ihrem unbegrenzten Reservoir an billigsten Arbeitskräften.' So spricht das Kapital, und solche kapitalistischen Karrierewürstchen wie Gyurcsany sprechen das natürlich nach.

Wir wissen nicht, bis zu welchem Grade sich die ungarische Bevölkerung über das Ausmaß der sozialen Bedrohung bereits im Klaren ist. Auch unsere Bevölkerung wird nach wie vor eingewiegelt und ermißt noch nicht, in welch prekäre Lage sie durch die Politik der Liquidation der Industrie und auch durch die demografische Katastrophe geraten ist. Wenn jetzt in Ungarn Massen auf die Straße gehen, um ihren Protest gegen ein derartiges Regime etwas deutlicher als bisher gewohnt vorzutragen, dann kann man das nur als ein notwendiges Wetterleuchten der Erschütterungen sehen, die auch in anderen europäischen Ländern unter diesem Kapitalismus anstehen - und ganz besonders auch in unserem Land!

Wir wissen auch nicht, welche politischen Kräfte derzeit in Ungarn beanspruchen, die Interessen der arbeitenden Bevölkerung und der Nation zu vertreten, und können die Vorgänge nicht im einzelnen beurteilen. Keineswegs ausgeschlossen, daß auch ganz rechte Kräfte jetzt versuchen, die Dinge für sich zu nutzen. Aber Unruhen und Kampf noch in ganz anderem Umfang sind notwendig, um dieses unverschämte Kapital und seine total korrupten und verlogenen politischen Cliquen in die Schranken zu weisen. Das gilt dort wie hier und anderswo. Es ist unbedingt an der Zeit, Formen des Zusammengehens zwischen den Werktätigen und Arbeitslosen in unserem Land und denen in Osteuropa anzubahnen.

 

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