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Statement 2016-38
Das
Rad der Geschichte nicht zurückdrehen!
Wassili
Gerhard 01.06.2016
In
der Berliner führenden Tageszeitung „Der Tagesspiegel“
gab es kürzlich einen Kommentar auf der Titelseite, der so offenherzig
war, der aber auch andererseits gewisse aktuelle Tendenzen in der öffentlichen
Propaganda in einer selten offenen Weise zum Ausdruck bringt, daß
man nicht darüber hinweg gehen sollte. Umso mehr, als dieser von
dem Leitenden Redakteur Malte Lehming stammt, der auch einst für
Kanzler Schmidt Reden geschrieben hat und auch in einer Reihe führender
Blätter publiziertAnm.1.
Dort
heißt es am 25.Mai 2016:
...
„Mesut Özil posiert als frommer, tiefgläubiger Mensch.
Das ist ungewohnt, verwirrend, zumal in Deutschland und Europa, dem
religiös analphabetisierten alten
Kontinent.
Hier
ahnt man zwar noch, was Glaube ist, praktiziert ihn aber kaum. Er fühlt
sich an wie ein Relikt aus vergangener Zeit. Die Zahl der Konfessionsmitglieder
geht seit Jahren zurück, von Gebeten, Liedern und christlichen
Ritualen haben sich viele entfremdet. Als Orientierungshilfe in ethischen
Fragen gelten die Kirchen längst nicht mehr. [Und das ist auch gut
so!] Ein
Bild wie das von Özil erinnert nun daran, dass der Glaube, global gesehen, die Norm ist, der Nichtglaube dagegen
die Abweichung. Deutschland und Europa sind säkulare Inseln in einem Meer
der Religiosität. Die Unterscheidungen zwischen öffentlich und privat, schrifttreu
und historisch-kritisch, spirituell und aufgeklärt gelten außerhalb
des in Europa gepflegten rationalisierten Diskurses über das Wesen
der Religion nur sehr eingeschränkt.“
(Hervorhebungen
von mir.)
Hier
wird negativ vom in Europa gepflegten rationalisierten Diskurs über
das Wesen der Religion gesprochen, immerhin von „Unterscheidungen
zwischen öffentlich und privat, schrifttreu und historisch-kritisch,
spirituell und aufgeklärt“, also die Diskussion unter Menschen,
die wissenschaftlich da drangehen, keineswegs primitives, einfach nur
verunglimpfendes Denken. Das wird mit „religiös analphabetisiert“
assoziiert, als „Abweichung“ bezeichnet, obwohl wir stolz
darauf sein sollten. Wir sollten stolz darauf sein, daß bei uns
die wissenschaftliche Kritik der Religion eine gewisse Höhe erreicht
hat. Ich will das auch einmal mit einem Wort von Marx kommentieren:
„Die
Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das
höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem
kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes,
ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist. Verhältnisse, die man nicht besser schildern kann als durch
den Ausruf eines Franzosen bei einer projektierten Hundesteuer: Arme
Hunde! Man will euch wie Menschen behandeln!“ (Zur Kritik der Hegelschen
Rechtsphilosophie. Einleitung, nachzulesen z.B.
h i e r, Fettdruck
von mir.)
Und hinter diesen Stand der Erkenntnis dürfen wir nicht zurückgehen,
auch wenn (besser: gerade weil!) der Oberherr das so möchte. Dies
bedeutet auch, einen modernen ethischen Maßstab zu besitzen, der
nicht von einer Religion abhängig ist. Wir sollten uns stattdessen
dafür einsetzen, daß auch in den Ländern, wo der Islam
vorherrschende Religion ist, die Freiheit zu einem historisch-kritischen
Herangehen an Fragen der Religion bestehen muß. Es lähmt doch
die Entwicklung dieser Länder, wenn Jahrhunderte alte Dokumente der
Stammeskultur im Arabien vor 1 1/2 Jahrtausenden als ewig verbindlich
und absolut wahr angesehen werden müssen.
Was
wäre denn, wenn in Deutschland die Religion noch die gleiche Rolle
spielen würde, wie in früheren Zeiten? Wenn wir hier den muslimischen
Migranten mit der Verherrlichung der KreuzzügeAnm.2
entgegentreten würden, was wäre dann die „Willkommenskultur“?
Scheiterhaufen? Wie würde das Bild von Mesut Özil kommentiert
werden? Vermißt Lehming auch die Auseinandersetzung zwischen Katholiken
und Protestanten, bei denen jeder dem anderen die Hölle prophezeite
für sein „falsches Christentum“? Gut, daß das schon
bei den Gläubigen selbst nicht mehr durchzusetzen ist. Was wäre
wohl die Meinung über die muslimischen Immigranten gewesen? Will
nicht eigentlich „Pegida“ an solche alten Gegensätze
wieder anknüpfen mit ihrer Berufung auf das „christliche Abendland“?
- wohinter sich seitens verschiedener Drahtzieher allerdings wirklich
völkisches Denken verbirgt.
Und
er ist hier nicht etwa falsch verstanden worden. Sein Kommentar, aus dem
schon oben zitiert wurde, endet so:
„Insofern
überrascht es nicht, dass die in Europa zunehmende Glaubensabgewandtheit
die frommen Menschen verschiedener Konfessionen zusammenschweißt.
Christen helfen Flüchtlingen aus muslimischen Ländern, Juden
und Muslime kämpfen gemeinsam für das religiöse Recht
auf Beschneidung ihres männlichen Nachwuchses, alle zusammen schmieden
Allianzen gegen Grabschändungen, Brandanschläge und Intoleranz.
Das Bild von Özil in Mekka könnte Teil dieser ganz großen
Ökumene sein. Anstößig im besten Sinne des Wortes.“
„Alle zusammen
schmieden Allianzen gegen Grabschändungen, Brandanschläge und
Intoleranz“? Wie vernagelt muß man sein, um derartiges zu
schreiben? - das ist doch eine völlig einseitige Zurechtbiegung der
Realität, angesichts von religiös begründeten oder aufgeladenen
Kriegen im Mittleren Osten, die dort die Staaten zerstören und die
Menschen hierher treiben, weil sie dort nicht mehr leben können.
Statt Toleranz gibt es dort oftmals Aufschlitzen der Kehle! Und gerade
die religiösen Aktivisten bringen diese Feindseligkeiten hierher
mit. Und diese würden sich doch wohl auch hier mit Eifer engagieren.
Diese religiöse Verbrämung der Konflikte kann doch gerade deshalb
eine solche Wirkung entfalten, weil man sich dort eben zwischen alle Stühle setzt, wenn man historisch-kritisch
an die Auslegungen der Religion herangeht, seinen Hals riskiert. Das ist
leider heute verbreitet so, obwohl das in der Vergangenheit schon einmal
besser war. Die arabische Nationalbewegung war keineswegs immer unterwürfig
gegenüber den Mullahs, Muftis etc. Und letztlich ist das ganze eine
in sich absurd widersprüchliche Argumentation: Gegen die „Glaubensabgewandtheit“
und gleichzeitig für die, Dank dieser „Glaubensabgewandtheit“
bzw. durch die daraus resultierende Toleranz, ermöglichte, Hinwendung
zum Glauben. Und dann wieder Glaubenskämpfe durchmachen, bis wir
dann durch diese bittere Erfahrung wieder klüger werden?
Ist
ihm, bei seiner Bildung, der „Kulturkampf“ der Bismarck-Zeit
ein Begriff? Bezeichnenderweise erinnert niemand heute an diese letztere
Erscheinung, obwohl sich daraus interessante Analogien für heute
ableiten lassen. Das war eine Auseinandersetzung mit der katholischen
Kirche zu Zeiten Bismarcks, als die deutsche Zersplittterung in Kleinstaaten,
teilweise unter der Fuchtel verschiedener ausländischer Mächte,
noch nicht lange vorbei war und Deutschland sich wieder als Nationalstaat
zu etablieren versuchte, leider unter der Fuchtel der preußischen
Junker und ihres Königs, ohne die demokratische Revolution, die so
dringend nötig gewesen wäre. Dazu war die deutsche Bourgeoisie
zu feige, die in entwickelteren Staaten schon das Beispiel moderner bürgerlicher
Klassenkämpfe vor Augen geführt bekam.
Damals postulierte die katholische Kirche die Unfehlbarkeit des Papstes
und dieser verlangte von seinen Gläubigen die Unterordnung unter
seine Gebote, vorrangig vor ihren Verpflichtungen als Staatsbürger
des gerade um seine Festigung kämpfenden neu konstituierten Nationalstaats.
Wenn die Anordnungen der Kirche im Gegensatz zu denen des Staates standen,
sollten sie ausschließlich befolgt werden, bei Strafe der Hölle.
In der damaligen politischen Landschaft bedeutete das, daß die Katholische
Kirche zu einem Werkzeug ausländischer Mächte gemacht werden
konnte, namentlich vorwiegend katholischer Mächte wie Spanien, oder
wie Frankreich, das gerade erst im Krieg von 1870/71 (mit seinem leider
zwiespältigen Charakter) besiegt worden war, während in Deutschland
bekanntlich quer durch das Land eine Linie ging zwischen überwiegend
katholischen und überwiegend evangelischen Gebieten, die im Dreißigjährigen
Krieg, für Deutschland ein bis heute nachwirkendes Trauma, gegeneinander
im Krieg gestanden hatten. Bei der Konstituierung des Nationalstaats war
es auch nicht selbstverständlich gewesen, daß sich das katholische
Bayern nicht Österreich angeschlossen hatte. In Deutschland gab es
zudem eine starke Partei, das Zentrum, die sich als vorwiegend katholischen
Werten verpflichtet verstand. Diese Auseinandersetzung wurde erbittert
geführt, es wurde den katholischen Geistlichen damals verboten, von
der Kanzel politische Reden zu halten, bei Androhung von Gefängnisstrafen.
Schließlich schloß man nach Jahren einen Kuhhandel, um den
Konflikt beizulegen, bestätigte der Kirche ein paar Privilegien gegen
Unterlassung ihrer subversiven Bestrebungen. Die protestantische Kirche,
die sich in der Regel staatstreu verhalten hatte, bedachte man dabei sicher
sowieso gern. Für das wilhelminische Deutschland, für den sich
als „göttlich erwählt“ ansehenden König, war
die Bestätigung durch die Kirche unverzichtbar. Gibt es da nicht
auffallende Parallelen? Müssen wir nicht froh sein, daß diese
Art von Auseinandersetzungen heute der Vergangenheit angehört? Manche
wollen wohl dahin zurück.
Religionsfreiheit bedeutet nicht zugleich, alles zu akzeptieren, was im
Namen der Religion vorgebracht wird. Und nicht jede Institution mit religiösem
Anspruch verdient absolute Toleranz. Insbesondere dann nicht, wenn sie
selbst nicht tolerant ist. In der Tat ist es abzulehnen, daß der
Staat dem Einzelnen vorschreibt, was er zu denken hat. Das ist eine Errungenschaft,
die sehr hoch einzuschätzen und zu verteidigen ist. Aber dazu mußte
die Macht der Religion eingeschränkt werden, die genau dies tat,
solange sie die Macht dazu hatte, die das heute noch tut, wo sie die Macht
hat, nämlich z.B. in den privilegierten kirchlichen Betrieben, die
einen wirklichen Anachronismus darstellen. Das wurde nach dem zweiten
Weltkrieg noch verstärkt durch den Einfluß der amerikanischen
Besatzungsmacht, wo heute in ihrem Mutterland in manchen Bundesstaaten
die Evolution in Biologie nur gelehrt werden darf, wenn die biblische
Schöpfungsgeschichte ebenfalls gelehrt wird, um „Einseitigkeit“
des wissenschaftlichen Denkens entgegenzutreten. (Nebenbei: Auch Putin
knüpft an alte zaristische Traditionen an und fördert den Einfluß
der russisch-orthodoxen Kirche, die ebenfalls lange ein Werkzeug des Zarismus
war, den Menschen das Denken, das „richtige“ Christentum vorzuschreiben.)
Es ist der falsche Weg, neben die anachronistischen privilegierten christlichen
Institutionen, die per „Abstimmung mit den Füßen“
immer mehr an Akzeptanz in der Bevölkerung einbüßen, jetzt
auch muslimische privilegierte Institutionen zu stellen. Erstere sollten
endlich nach Vereinsrecht behandelt werden. Das gibt ihnen immernoch die
Möglichkeit, soviel Einfluß auszuüben, wie das von ihren
Mitgliedern gewollt und mit ehrenamtlicher Arbeit, mit Mitgliedsbeiträgen
und Spenden ermöglicht wird. Es ist sehr durchsichtig, wenn die Kirchen
sich für öffentlich-rechtliche muslimische Religionsgemeinschaften
einsetzen. Sie erhoffen natürlich, daß dies zur Kräftigung
auch ihres bröckelnden Einflusses beiträgt, die Bedeutung der
Religion allgemein wieder hebt, wovon sie dann auch meinen profitieren
zu können.
Und die bestehenden muslimischen Vereine, die nach gleicher Privilegierung
streben, könnte man dann gleich behandeln. Sollen wir Vereine aufblähen,
die z.T. nur einige tausend Mitglieder haben, aber vom Ausland finanziert
werden, die die Integration der Immigranten untergraben, wie z.B. solche,
die von Erdogans Religionsministerium finanziert und mit Predigern versorgt
werdenAnm.3. Die Grünen streben derartiges
vehement an, wollen hier schon länger öffentlich rechtliche
muslimische Religionsgemeinschaften etablieren. Sie geben zwar vor, den
ausländischen Einfluß begrenzen zu wollen. Aber kann man der
Bundesregierung zutrauen, den Einfluß solcher Kräfte zu begrenzen,
wenn sie international Erdogan aufwertet oder Saudi-Arabien aufrüstet,
wenn sich eine Bundeskanzlerin von einem Staatsmann abhängig macht,
der von den türkischstämmigen Einwohnern dieses Landes verlangt,
in erster Linie Türken zu sein. Ein Islamist und Verherrlicher des
osmanischen Reiches, das uns mit dem Säbel zu islamisieren versuchte.
Hieß es nicht auch: die Treue zur Nato, damit auch zu den USA, die
den militärischen Oberbefehl haben, sei Staatsräson? Und die
USA fördern die wichtigsten islamistischen Staaten und standen an
der Wiege solcher Kräfte wie Al Qaida oder IS. Die eingewanderten
Muslime werden sicher weiter an ihren Gott glauben, aber sie müssen
auch das Recht haben, das nicht zu tun oder es in der Weise zu tun, wie
sie das selbst für richtig halten, frei von Zwang durch fanatische
religiöse Kräfte, die sie zu ihrer Auslegung zwingen wollen.
Und das wird nicht erreicht, wenn man letzteren eine Möglichkeit
schafft, das auch noch mit staatlicher Privilegierung zu tun. Wir brauchen
hier keinen institutionalisierten Islam.
Eine noch ganz andere Frage ist berechtigt. Ist es nicht eher so, daß
die heutige Entwicklung der Kommunikationsmittel und des internationalen
Verkehrs die engstirnige Gläubigkeit im Sinne eines Festhaltens an
Vorschriften aus ferner Vorzeit untergräbt? Hat sich das nicht auch
beim arabischen Frühling zunächst gezeigt? (Und auch im Iran
ist da einiges im Gange, haben viele die Bevormundung durch die Mullahs
offenbar satt.) Ist nicht der Prozeß der Erosion dieser inbrünstigen
archaischen Religiosität bereits im Gange und macht einer mehr aufgeklärten,
moderneren Sicht Platz? Und da sollen wir jetzt in Europa die entgegengesetzte
Entwicklung fördern? Das kommt doch überhaupt nicht in Frage!
Anm.1
Die Zeitung „The European" schreibt
über ihn:
“Von
Ende 2000 bis 2005 war er Chef des Washingtoner Büros der Zeitung.
Zum „Tagesspiegel“ kam er 1991 als Redakteur für Außenpolitik-
mit den Schwerpunkten Sicherheitspolitik, Transatlantische Beziehungen
und Naher Osten. Von 1989 bis 1991 arbeitete Malte Lehming als Persönlicher
Referent und Redenschreiber für den ehemaligen deutschen Bundeskanzler
Helmut Schmidt.“ Was dort nicht erwähnt wird, ist der nicht
uninteressante Fakt, daß er laut jener
Aufstellung von 2014 auch
Mitglied der „Atlantikbrücke“ ist.
- zurück -
Anm.
2 Die auch historisch-kritisch, also wissenschaftlich, zu betrachten
sind, genau wie auch Religionen selbst. - zurück
-
Anm. 3 Dazu gehört z.B.auch die Ahmadiyya-Sekte,
die offenbar über beste „Connections“ in „höhere
Kreise“ verfügt, aber hier nur eine relativ kleine Anhängerschar
hat. Trotzdem ist sie in Hessen als privilegierte Religionsgemeinschaft
anerkannt, obwohl erhebliche Zweifel angebracht sind, ob verfassungsgemäß
ist, was sie lehren. -zurück -
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