Internet Statement 2016-85
Was ist wirklich die Schande
in Syrien
Wassili
Gerhard 15./17.12.2016
Syrien - die Schande! heißt es in der Zeitung, speziell
mit Bezug auf Aleppo. Was in Syrien mit den Menschen geschieht, ist in
der Tat eine Schande und Schande ist sogar eigentlich eine völlige
Untertreibung. Dort geschieht ein Verbrechen, das niemals vergessen oder
unter den Tisch gekehrt werden darf. Ein Land, das der Kulturentwicklung
der Menschheit viel gegeben hat, wird systematisch zerstört, seine
Kultur und Zivilisation wird zerstört, die Bevölkerung wird
vielfach massakriert, Millionen fliehen. Das geht schon seit Jahren so.
Nun geht wieder einmal durch unsere Zeitungen: „die Schande!“,
denn der Teil von Aleppo, der nicht von
Assad-treuen Truppen, sondern von einer Koalition von Milizen gehalten
wurde, der lange eingeschlossen war und von Flugzeugen und Kanonen ständig
bombardiert wurde, ist so gut wie gefallen. Für die Assad-Regierung
ist das ein großer Durchbruch, für die Rebellen ein schwerer
Rückschlag. Das war eine strategisch wichtige Stellung in einer großen
Stadt, nicht weit von der türkischen Grenze. Noch im August hatten
sie gejubelt, als sich ein Milizenbündnis gegen die Regierungstruppen
formierte und die Assad-Truppen zurückdrängte. (sieh z.B. NZZ
vom 14.08.2016 „Wie es zum Erfolg der Rebellen in Aleppo kam“)
Damals hatte sich der „Al-Qaida-Ableger“ Nusra-Front umbenannt
und formal die Verbindung zu Al Qaida beendet, und damit ein Bündnis
mit teils aus dem Westen oder Saudi-Arabien und Qatar, teils auch aus
der Türkei unterstützten großenteils salafistischen Milizen
ermöglicht. Mit von der Partie auch eine mehrere tausend Mann starke
«Nureddin al-Zenki-Bewegung», die schon einmal durch die Entführung
von Journalisten und humanitären Helfern ihre „Unterstützung
durch die Amerikaner“ (so NZZ) verspielt hatte. Dieses Bündnis
ist nun anscheinend am Ende. Das sind nicht einfach die armen Einwohner
von Aleppo, wobei die Einwohnerschaft von Aleppo überhaupt in verschiedene
Volks- und Religionsgruppen gespaltene ist, die in verschiedenen Quartieren
konzentriert sind, zwischen denen es in der Vergangenheit auch schon zu
scharfen Auseinandersetzungen und Kämpfen gekommen ist, bis hin zu
Pogromen. Das allein verdeutlicht schon, daß die Unterstützung
klerikaler Eiferer dort grundsätzlich von Übel ist.
Unzweifelhaft hat die Zivilbevölkerung dort schwer unter Kanonade
und Bombardierungen gelitten. Dem Vernehmen nach gab es auch jetzt Übergriffe
auf die Zivilbevölkerung, aber das ist schwer zu bewerten, denn unabhängige
Beobachter kommen selten zu Wort, aber reichlich parteiische Stimmen,
die sich einen solchen Anschein zu geben versuchen. Auch der sogenannte
„Bürgermeister“, der herumgereicht wird, der abwechselnd
in Idlib oder der Türkei residiert, wenn er nicht herumreist, gehört
dazu. Das scheint also jemand zu sein, dem islamistische Rebellen nicht
die Kehle durchschneiden und der in der Türkei willkommen ist, und
damit ist er schon ganz bestimmt kein Unparteiischer. Fraglich ist auch,
ein wie großer Teil der Einwohner dieser Stadt sich durch ihn überhaupt
vertreten sieht. Was nicht heißt, daß nicht auch etwas daran
sein kann. In diesem Krieg gibt es vermutlich keine Seite, die derartige
Verbrechen nicht begangen hat. Nicht immer wird aber über die Opfer
so ausführlich und eindringlich und auf eine so ans Herz gehende
Weise in unseren hiesigen Medien berichtet. Die Intensität, mit der
die Emotionen im Falle des von den Rebellen kontrollierten Stadtteils
angesprochen werden, unterscheidet sich aber auffallend von solchen Fällen,
wo die Berichterstatter auf der Seite der Sieger oder gewünschten
Sieger sind. Siehe z.B. gegenwärtig Mossul, wo eine Million Zivilbevölkerung
mit eingekesselt ist. Dies scheint vor allem mit der besonderen Bedeutung
Aleppos für den weiteren Kriegsverlauf zu tun zu haben.
Seit im Zusammenhang mit der Kriegführung gegen den Irak 1990 die
Propagandalüge mit den frühgeborenen Babys verbreitet wurde,
die angeblich von irakischen Soldaten in einer kuwaitischen Geburtsklinik
aus den Brutkästen gerissen wurden - ich war damals auch zunächst
sehr ergriffen von dieser gefälschten Geschichte - ist bei mir
jedenfalls etwas passiert. Ich weiß nicht mehr, ob ich nicht wieder
einmal manipuliert werden soll. Das haben die Verantwortlichen in den
Medien, ungewollt sicherlich, geschafft. Damals hat sich diese Geschichte
als frei erfundene „kreative“ Propagandalüge entpuppt,
erfunden von Leuten, die sich den Kopf über die wirksamste Propaganda
zerbrachen. In diesem Krieg, aber auch nicht zuletzt durch das jahrelange
Embargo und die Verheerungen in Folge des Krieges wurden tatsächlich
hunderttausende Kinder umgebracht, ganz
sicher auch viele „Frühchen“, ganz ohne ergreifende Geschichten
oder Bilder in den Medien, und heute sind sie deshalb weitgehend vergessen.
Jedenfalls in unseren Medien. So viele Verbrechen und Grausamkeiten werden
tagtäglich in der Welt begangen, daß man nur noch schreien
könnte, wenn man alles dichter an sich heranlassen würde. Auf
dieser Welt ist so vieles, was nach sofortiger Änderung schreit,
überall auf der Welt, aber auch schon um die nächste Ecke! Und
so vieles davon wird nicht thematisiert. Deshalb bin ich heute mißtrauisch,
kann gar nicht anders, wenn die Medien einen solchen Ton anschlagen. Ich
bin immer nur am Überlegen: Wem nutzt das jetzt?
Ganz offensichtlich ist gegenwärtig in Wahrheit das Schlimmste, daß
die Assad-Regierung mit der Einnahme der gesamten Stadt enorm an Boden
gewinnt. Das wird nicht immer offen gesagt, aber das ist zumindest überall
zwischen den Zeilen sichtbar. Es wird ständig betont, daß diese
Regierung ohne russische Hilfe nicht mehr da wäre. Mag sein. Daß
die andere Seite (teilweise modernste) Waffen und Ausrüstung, Ausbildung
und sonstige Unterstützung aller Art für Milliarden bekam und
bekommt, wovon ein riesiger Anteil letztlich beim IS landete, das hat
wohl keine Rolle gespielt? Gerade war Frau von der Leyen mehrere Tage
in Saudi-Arabien, das seine Finger ganz dick in diesem Krieg hat, köpfende
und kreuzigende Islamisten unterstützt, also Brüder im Geiste,
sie hat dort über Militärhilfe für dieses Land verhandelt
und über Zusammenarbeit bezüglich Syrien. Muß einem nicht
automatisch der Gedanke kommen, daß es auch darum ging, wie in diesem
Krieg das Blatt wieder zu wenden wäre?
Da kommt bei mir immer wieder der Gedanke auf: Wenn heute die Assad-Regierung
wie gewünscht am Ende wäre und die Rebellen die Millionenstadt
Damaskus erobern würden - wäre das Echo auch so? Dort wohnt
eine Bevölkerung, die bisher überwiegend gegenüber der
Assad-Regierung die Loyalität bewahrt hat, wie übrigens in weiteren
bevölkerungsreichen Teilen des Landes. Wenn nun diese Rebellen, viele
von ihnen fanatische Gegner einer modernen säkularen Lebensweise,
wie sie dort üblich ist, teils salafistisch oder gar „Al Qaida“
nahestehend, nun Damaskus erobern würden, mit den Massakern und Scheußlichkeiten,
die dann zu erwarten wären, wie wäre das Presseecho dann? Einen
Vorgeschmack gibt doch auch die Tatsache, daß zum x-ten Male klar
wurde, daß diese Kräfte über Giftgas verfügen und
es auch einsetzen, daß aber immer und immer wieder nur die Assad-Regierung
verdächtigt wird, sobald Berichte über Giftgas-Einsätze
kommen. Wenn die sich durchsetzen würden, würde Frau v.d. Leyen
dann zum Feiern zu den Saudis fahren?
Kriege wird es in dieser Welt bestimmt noch geben solange es noch Klassen
gibt und Interessen, die unversöhnlich sind, gerechte und ungerechte,
oder auch im Charakter eine Mischung aus beidem. Sie enden entweder durch
den Sieg einer Seite oder durch Erschöpfung beider Seiten, die einfach
nicht mehr weiter können und zu einem Kompromiß gezwungen werden.
Oder beide Seiten gehen unter, weil jemand von außen kommt, der
die Lage für sich ausnutzt. Im Fall von Syrien wurden die inneren
Widersprüche von außen angestachelt und der Krieg wird von
außen ständig geschürt, die Gegner Assads jeglicher Couleur,
am wenigsten aber sicher säkulare, zivilgesellschaftliche Oppositionskräfte,
wurden mit modernen Kriegswaffen ausgerüstet und ermutigt. Die konfessionelle
und sektiererische Komponente wird vor allem von außen mit neokolonialer
Zielsetzung ständig gestärkt. Die Erschöpfung im Inneren
ist mittlerweile wahrscheinlich längst weitgehend eingetreten, aber
Kräfte von außen wollen nicht, daß dieser Krieg ein Ende
findet. Interessierte Mächte, größere und kleinere, haben
so viele Milliarden in diesen Krieg investiert, daß sie nicht wollen,
daß er zu Ende geht, ohne daß er in ihrem Sinne endet. Und
das heißt im Westen und bei seinen Alliierten in der Region, daß
der Krieg auf jeden Fall nicht zu Ende gehen darf, ohne daß Assad
weg ist, denn das war von Anfang an wesentliches Ziel. Ob es danach im
Lande überhaupt einen Sieger geben kann, ist ungewiss. Und deshalb
muß man den Verdacht haben, daß es vor allem die Sorge ist,
daß dieser Krieg ein Ende finden könnte, und noch dazu ein
völlig anderes Ende als gewünscht, warum so lautstark die „humane
Intervention“ gefordert wird. Da geht es nämlich vor allem
um eine Intervention gegen eine zu frühe Entscheidung in diesem Krieg,
also gegen ein Ende dieses Krieges, bevor nicht die gewünschten Resultate
erzielt wurden.
Solange die fanatischen, rückwärtsgewandten islamisch-theokratischen
Kräfte auf dem Vormarsch waren, wurden ihre Kreuzigungen und Enthauptungen,
ihre Verfolgung von religiös anders Denkenden (geschweige denn Atheisten)
bei uns nicht vorrangig thematisiert. Das ist bei Saudi-Arabien ja auch
ganz ähnlich. Als das alles nicht wie geplant zum Sturz Assads führte,
auch weil sich nun Rußland mit seinen wieder vermehrten Potenzen
auf der anderen Seite einmischte und nicht wollte, daß ein weiteres
Land, in dem es Chancen für „Geländegewinn“ hatte,
zerstört wird, daß sie ihre einzige Flottenbasis im Mittelmeer
verlieren, da ging es nicht mehr nach Drehbuch und lief aus dem Ruder.
Rußland hatte auch Assad werbewirksam auf der Weltbühne zur
Einwilligung in die Vernichtung seiner Giftgasvorräte gedrängt
und damit den Plan für eine militärische Intervention sabotiert.
Man hatte so lange den religiösen Fanatismus angestachelt und mit
allen Schikanen ausgerüstet, und nun hatte man ISIS damit groß
gemacht, aber war Assad immer noch nicht los. Der Höhepunkt des Szenarios
verging, bei dem eigentlich die offene Intervention anstand, und es kam
nicht zum geplanten Durchbruch.
In gewissem Sinne hatte man sogar Assad ungewollt gestärkt, weil
er nun im Lande als Gegenkraft gegen die Kreuziger und Halsabschneider
besser dastand oder gar für seine Standhaftigkeit neuen Respekt erntete.
Und viel zuviel von den Vorgängen ist durchgesickert, was mit tödlicher
Sicherheit auch dazu beiträgt, daß jetzt hysterisch für
Zensur im Internet die Trommel geschlagen wird. Und damit hatte man ungewollt
auch die Mächte gestärkt, die sich nun zugunsten Assads massiv
einmischten, Rußland und Iran, obwohl diese selbst natürlich
ganz offensichtlich eigene Machtinteressen verfolgen. Es wurde diese unübersichtliche
Gemengelage geschaffen, in der irgendeine nur positive Lösung schwer
vorstellbar ist. Es soll auch keineswegs vergessen werden, daß dieses
Land vorher nicht demokratisch regiert wurde, daß es ein fragiles
System der Kräftebalance war, in dem auch Brutalität und grausame
Unterdrückung dazu gehörten, wo es natürlich auch berechtigten
Widerstand dagegen gab. Aber es gab eben auch eine solche Opposition gegen
dieses Regime, die es ablehnte, weil es nicht theokratisch war, weil es
für alle Religionsgruppen einen Platz hatte und einer archaischen
„Scharia-Diktatur“ im Wege war, weil man in großen Teilen
des Landes ein modernes Leben führen konnte. Und diese Kräfte
sind vor allem gegen Assad gestärkt worden, mit ihnen käme man
vom Regen unter die Traufe, während die säkulare Opposition
dazwischen zerrieben wurde und wird, was wahrscheinlich sogar ein gewünschter
Effekt ist.
Nachtrag
Inzwischen verdichtet sich das Bild nach neueren Berichten
von vor Ort etwas. Auch auf der Seite, auf der sich die Syrische Regierung
befindet, gibt es eine Koalition von Kräften, die keineswegs von
ernsten Widersprüchen untereinander frei ist. Selbst zukünftige
Kämpfe zwischen jetzigen Alliierten sind nicht ausgeschlossen. In
der unübersichtlichen Gemengelage gilt teilweise die alte Regel „Der
Feind meines Feindes ist mein Freund“. Sogenannte „Schiitische
Milizen“, vermutlich dem Iran nahestehend, sollen dem Vernehmen
nach zuletzt die weitere Abwicklung des Abkommens zwischen den Kriegsparteien
verhindert haben, das eine Evakuierung der eingeschlossenen Bevölkerung
einschließlich besiegter Kämpfer mit leichten Waffen vorsieht.
Diese „Schiitischen Milizen“ hatten durchgesetzt, daß
auch schiitische Dörfer, die von Rebellen eingeschlossen sind, in
das Abkommen eingeschlossen wurden und ebenfalls evakuiert werden. Sie
bezichtigten die andere Seite der Nichteinhaltung dieser Vereinbarung
und haben mit dieser Begründung die weitere Durchführung mit
Waffengewalt unterbunden. Solche „Schiitischen Milizen“ sind
ein Element, das die Gemengelage in Syrien noch weiter kompliziert, denn
eventueller eigener religiöser Fanatismus von dieser Seite und Loyalität
gegenüber dem Iran, einer weiteren klerikalen Macht, die in der Region
eigene Pläne hat, sind ein weiterer Unsicherheitsfaktor. Im Irak
sind außerdem beim Kampf um Mossul ebenfalls ähnliche „Schiitische
Milizen“ in einer anderen vom Westen unterstützten Koalition
mit wieder anderen Loyalitäten eingebunden, im Grunde formal dort
auch Bündnispartner von Gegnern Assads. Es ist interessant, daß
sich unsere Medien unbeirrt vor allem auf die Assadregierung einschießen,
immerhin eine der wenigen Kräfte in der Region, die nicht eine sektiererische
klerikale Zielsetzung vertritt. Das sollte man auch im Lichte des jüngsten
Besuches von v. d. Leyen in Saudi Arabien betrachten.
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