Internet Statement 2017-121

 

 

 

Eine Kundgebung in Neukölln gegen Verdrängung von Mietern

 

 

Wassili Gerhard  20.11.2017

Es formieren sich zunehmend lokale Initiativen angesichts der Wohnungsnot, der Verteuerung und der Verdrängung von Mietern zwecks teurerer Verwertung von Immobilien. Am 18.11.2017 fand eine Kundgebung am Maybachufer in Neukölln statt, wo sich ein besonders dreister Fall ereignet. Dort sind die Mieter eines bisher zum Sozialen Wohnungsbau gehörenden großen Mietshauskomplexes von Mietsteigerungen in solcher Höhe bedroht, daß sich viele beim Durchkommen dieser Pläne die Wohnung nicht mehr leisten können. Es ist die Rede von einer Mietsteigerung um 20% bis 30% ab 1. Dezember. Die Quadratmeter-Miete soll dann auf knapp unter 10 Euro steigen. Das ist noch erheblich mehr, als nach dem Mietspiegel innerhalb von bestehenden Mietverhältnissen auf dem freien Markt zulässig wäre, aber der Vermieter meint, vor dem Ausstieg aus dem sozialen Wohnungsbau einen Trick gefunden zu haben, wie er diesen Mietsprung begründen kann. Es geht nicht um Sanierung. Es soll um fiktive Zinskosten gehen, die real gar nicht angefallen sind, die er aber trotzdem berechnen will. Und er meint, gerade die speziellen Bestimmungen im sozialen Wohnungsbau dafür mißbrauchen zu können. Das schürt die Empörung besonders.

 

Viele Menschen hatten sich auf dem Platz vor dem Haus versammelt, Junge, alte, Kinder, Deutschstämmige und Menschen mit migrantischem Hintergrund. Es war eine kämpferische Atmosphäre mit Sprechchören und vielen Redebeiträgen von Aktiven und einzelnen Mietern aus dem Haus, anderen Mieterinitiativen aus angrenzenden Gebieten von Neukölln, Kreuzberg und Treptow, auch einzelne Lokalpolitiker sprachen. Es wurde gefordert, daß die Senatsparteien etwas dagegen unternehmen, daß hier jemand, der jahrelang von den sicheren Konditionen des sozialen Wohnungsbaus profitiert hat, jetzt abspringt und die Mieter über die Klinge springen läßt, wegen der Aussicht auf höhere Mieten von zahlungskräftigen neu Zugezogenen. Und dabei stellt er auch noch vorher fiktive Zinskosten in Rechnung, die er real so gar nicht hatte. Nach Ansicht der Investitionsbank Berlin soll das nicht zulässig sein. Die Mieter haben aber in der Regel nicht den langen Atem, einen Prozeß zu führen, – und ist dessen Ausgang auch sicher?

 

Der Vermieter hat mit diesem 1981 gebauten Haus wegen der Konditionen im sozialen Wohnungsbau bisher sorgenfrei leben können. Er hat von Subventionen und einer garantierten Kapitalverzinsung profitiert, Schulden wurden angeblich sogar erlassen. Das sogenannte Unternehmerrisiko nahm ihm der Staat ab. Jetzt will er sich aus dieser Bindung freikaufen, denn dieser Teil von Neukölln ist zunehmend in Mode, „Arm aber sexy“, und zieht zahlungskräftige neue Mieter an, da braucht er auch keine Risikoabsicherung mehr. Ab Januar soll die Sozialbindung auslaufen. Die bisherigen Mieter des Hauses sollen noch vorher die Zeche zahlen. Von denen will er entweder viel mehr Miete oder sie loswerden. Dies ist kein Einzelfall, sondern ereignet sich immer öfter in Berlin, aber ähnlich auch in anderen Großstädten. Die Aussicht auf gute Renditen setzt öfter auch kriminelle Energie frei. Auch mit Sanierungen wird gearbeitet, um die Mietkosten hochzutreiben.

 

Bezahlbare Wohnungen werden immer weniger. Es gibt Menschen, immer mehr auch Arme trotz Vollzeitarbeit, die manchmal schon mehr als die Hälfte ihres Lebensunterhalts für ihre Wohnung bezahlen, die von Obdachlosigkeit bedroht sind in solchen Fällen von Mietsprüngen. Auch Menschen, die von Hartz IV leben, finden immer schwerer eine Wohnung, die noch innerhalb der Wohnkosten liegen, die ihnen zugestanden werden. Da knapsen immer mehr schon von dem knappen Geld für Essen, Kleidung usw. etwas ab, um für die Miete draufzuzahlen. Ein älterer Mann erzählte auf der Kundgebung, daß er seine Enkel nach dem Kindergarten betreut, weil die Eltern bis spät abends arbeiten, was er vielleicht nicht mehr schafft, wenn er wegziehen muß. Das ist ein Beispiel dafür, wie Menschen mit wenig Geld durch so etwas auf vielfältige Weise getroffen werden können. Gerade auch Familien sind bedroht, das zunehmende Armutsrisiko für Familien mit Kindern, eine Schande dieser Gesellschaft, wird auch von dieser Seite immer mehr verschärft. So nimmt es nicht Wunder, daß die Zahl der Obdachlosen in zwei Jahren um 150 Prozent gestiegen ist, was jedoch auch mit auf Einwanderung zurückgeht. Wie viele Menschen in Notunterkünften leben und dabei fast ihre ganze Habe verloren haben, denn auch der Hausrat wird nicht unbegrenzt eingelagert, erfährt man nicht.

 

Im vorliegenden Fall gibt es die Ansicht, daß diese Mieterhöhung gesetzlich nicht zulässig ist, deswegen fordern die Mieter der Häuser Maßnahmen der Politik, vor allem von der zuständigen Senatorin Lompscher, um nicht jede einzelne Mietpartei mit dem Risiko eines Gerichtsprozesses allein zu lassen, was viele mangels Rücklagen nicht durchhalten könnten. Es steht auf jeden Fall fest: Es ist richtig, öffentlich zu protestieren, öffentlichen Druck zu machen. Das hat man auch am Beispiel des Vertreters des Mietervereins gesehen, der auf der Kundgebung öffentlich gefragt wurde, warum Rechtsanwälte seines Vereins, wie es dort hieß, Mieter in dieser Sache nicht vertreten wollten, der nach einem kurzen Ansatz zur Rechtfertigung schnell versprach, der Sache nachzugehen und Abhilfe zu schaffen. Da muß man aber dranbleiben und weiter für Öffentlichkeit sorgen. Selbst Leute von der Linkspartei rieten zu möglichst großem Druck, damit sich Frau Lompscher bewegt. Auf jeden Fall ist eigene Aktivität von Unten unerläßlich, man darf nicht einfach darauf hoffen, daß die Politiker die Sache richten. Da muß man nur einmal daran erinnern, daß frühere Senate, auch der „rot-rote“ Senat, mit dem massenweisen Verkauf städtischer Wohnungen an „Heuschrecken“ oder seinen Gesetzesinitiativen zur Sanierung, mit Abriß von Wohnbauten aus DDR-Zeiten, mit zuwenig Wohnungsbau selbst mit die Weichen zur heutigen Lage auf dem Wohnungsmarkt gestellt haben.

 

Es ist auch richtig, wenn die zunehmend lokal entstehenden Initiativen Verbindung untereinander aufnehmen und ihre Anstrengungen koordinieren, damit ein wachsender Strom von Widerstand entsteht. Nur das wird nachhaltig eine Wirkung haben können. Das ist nicht nur eine Angelegenheit der gerade akut Betroffenen, sondern geht auch diejenigen an, die vorerst noch weniger betroffen sind, morgen sind sie vielleicht auch dran. Es ist richtig, über den eigenen Tellerrand zu sehen. Je mehr die Interessen gebündelt sind, für deren Durchsetzung man sich engagiert, desto größer wird die Durchschlagskraft. Letztlich ist das Verlangen nach ausreichendem und bezahlbarem Wohnraum sogar eine Bestrebung, die international ist. Dessen sollte man sich bewußt sein, daß man ein Anliegen von hunderten Millionen auf der Welt vertritt, die im Prinzip die gleichen Interessen haben. Überall auf der Welt wird billiger Wohnraum zerstört, wenn mit anderer Verwertung des Bodens größere Gewinne winken. Das ist ein Charakteristikum der heutigen globalisierten kapitalistischen Gesellschaft, wie es schon von Anfang an für den Kapitalismus charakteristisch ist. Friedrich Engels schrieb schon vor 130 Jahren:

„Die Ausdehnung der modernen großen Städte gibt in gewissen, besonders in den zentral gelegenen Strichen derselben dem Grund und Boden einen künstlichen, oft kolossal steigenden Wert; die darauf errichteten Gebäude, statt diesen Wert zu erhöhn, drücken ihn vielmehr herab, weil sie den veränderten Verhältnissen nicht mehr entsprechen; man reißt sie nieder und ersetzt sie durch andre. Dies geschieht vor allem mit zentral gelegenen Arbeiterwohnungen, deren Miete, selbst bei der größten Überfüllung, nie oder doch nur äußerst langsam über ein gewisses Maximum hinausgehn kann. Man reißt sie nieder und baut Läden, Warenlager, öffentliche Gebäude an ihrer Stelle.“ (Friedrich Engels. „Zur Wohnungsfrage“. Im Internet unter: http://gutenberg.spiegel.de/buch/zur-wohnungsfrage-5094/1 )

Heute erfüllt die Kernsanierung oder auch die „energetische Sanierung“ oft den gleichen Zweck wie das Niederreißen. Es wird solche Erscheinungen geben, solange es eine Klassengesellschaft mit Privateigentum an Produktionsmitteln gibt, denn da werden Immobilien eben in erster Linie unter dem Gesichtspunkt der Investition von Kapital und der Erzielung von Profit gesehen. Letztlich ist die Lösung dieses Kernproblems erforderlich.

  

 

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