Internet Statement 2018-114
Neokolonialismus ohne Maske in Syrien - Und wofür sind Journalisten wie Claas Relotius gut
Wassili Gerhard 25.12.2018 Wenn die USA aus Syrien abziehen, dann muß die Türkei einmarschieren? Im Deutschlandfunk heißt es zum Beispiel: „USA und Türkei wollen Machtvakuum vermeiden“. Meldungen mit einem solchen Tenor gibt es viele. Was denn für ein Machtvakuum? Meint das ein Zuwenig an ausländischer Bevormundung, daß Einwohner in Syrien und Irak womöglich ohne ausländische Oberherren leben oder mit den falschen Oberherren? Machtvakuum ist doch wohl eine der am meisten offenen neokolonialistische Begründungen, die man sich denken kann, das könnte höchstens noch getoppt werden von der Behauptung einer angeblichen Minderwertigkeit der ansässigen Bevölkerung, die angeblich zur Selbstbestimmung unfähig sei, was aber doch irgendwie zwischen den Zeilen herausschaut, denn warum brauchen denn Amerikaner oder Türken keine ausländischen Oberherren? Weil das selber Herrenvölker sind? Was ist denn das in unseren Medien für eine Untertänigkeit gegenüber Hegemonialmächten, sich so für neokoloniale Propaganda einspannen zu lassen? Das entspricht allerdings dem besonderen Charakter der deutschen Bourgeoisie, die sich starke politische Oberherren wünscht, in deren Schatten sie gute Geschäfte machen kann.
Eines wird dabei auch wieder deutlich: Der IS wie auch andere islamistische Banden sind auch ein Ziehkind der Imperialisten, das ihnen einen willkommenen Vorwand für die Intervention geliefert hat und ihn auch jetzt wieder liefert, und dabei ein Ableger von Al Kaida ist, einer ähnlichen Bande, mit deren Abkömmlingen man bei Bedarf auch direkt zusammenarbeitet, wie mit der ehemaligen Al Nusra-Front oder heute Tahrir al-Sham1. Eigentlich liefern sie sich sogar gegenseitig Vorlagen, das kennzeichnet das Verhältnis von Islamisten und Imperialismus generell, Rivalität und gleichzeitig Komplizenschaft gegen Entwicklungen, die beiden nicht passen.
Und deshalb will man solche Kräfte bisher gar nicht wirklich vernichtend besiegen, oder versucht sogar das letzte größere Gebiet, wo z.B. Tahrir al-Sham noch Macht ausübt, Idlib, unbedingt davor zu bewahren, von Regierungstruppen eingenommen zu werden. Idlib steht jetzt sogar regelrecht unter Schutz mit der kaum verhüllten Drohung, sofort einen Giftgasangriff zu behaupten, wenn es massiv angegriffen wird. Tahrir al-Sham alias Al Nusra kennt sich aus mit der Inszenierung von soetwas, sie verfügen selbst über Giftgas, darüber gab es immer wieder Berichte, und scheuen nicht davor zurück, Derartiges selbst zu inszenieren. Erst mit der Aggression der USA und deren Besatzungsregime im Irak sind solche Kräfte dort groß geworden, auch der IS bzw. seine Vorgängerorganisationen. Vom Irak hat er dann auf Syrien übergegriffen, wurde dort durch massives ausländisches Sponsoring der militärischen Gegenkräfte zur Regierung Assad mit hochgepäppelt. Auch wenn es wieder heißt: „Verschwörungstheorie“. Soll das etwa heißen, daß es keine Verschwörungen der Imperialisten gegen die Völker gibt? Wie kann man das nicht sehen? Das ist doch eine größere Traumtänzerei als die falsche Annahme einer Verschwörung, wenn nicht viel Schlimmeres, nämlich Propaganda im Sinne des Imperialismus, obwohl die plumpe Kreation von wirklich idiotischen Verschwörungstheorien, die es tatsächlich auch gibt, manchmal auch aus deren Desinformationsküche zu stammen scheint. So kann man die Öffentlichkeit verwirren, daß sie es schwer hat, die Spreu vom Weizen zu trennen.
Jedenfalls steht fest: Bevor die USA und ihre lokalen Komplizen begannen, die ganze Region in ein Chaos zu stürzen mit ihrer Aggression gegen den Irak, haben solche Kräfte dort nicht in dieser Weise agieren können. Das Regime eines Saddam Hussein, das solche Kräfte entgegen der Propaganda in den USA, vor allem ihrem eigenen Volk gegenüber, nicht hochkommen ließ, war sicher eines, dessen Sturz durch das eigene Volk und Ersetzung durch ein wirklich besseres man hätte begrüßen müssen - es durch militärische Aggression zu beseitigen und damit das Land in ein solches Chaos zu stürzen, das hat schlimmere und reaktionärere Gegenkräfte hochgebracht, die vorher niedergehalten wurden. Fortschrittliche Oppositionskräfte hatten noch nicht die Stärke, sich dagegen zu behaupten, und die Chance dazu wurde ihnen damit genommen.
Die Baath-Partei hatte zumindest auch einen antikolonialen Hintergrund, die Bestrebungen nach einer arabischen Einheit, womit man sich von ausländischer Herrschaft unabhängig machen wollte. Es waren sowohl im Irak wie in Syrien Sunniten, Schiiten und Christen in dieser Partei und in der Regierung, weil sie nicht ethnisch oder religiös ausgerichtet war, auch nicht im Sinne eines Proporz der Religionen. Deshalb haben antisäkulare Schiiten oder Sunniten zum Beispiel immer wieder den Vorwurf erhoben, ihre Konfession käme zu kurz. Spalterischer Islamismus, ob sunnitisch oder schiitisch, kam zu Recht zu kurz! Aber wir leben nun einmal heute in einer Klassengesellschaft, und wenn eine Bewegung die Kommandoposten eines Landes übernimmt, ohne auch eine Ausrichtung in der Praxis zur Beseitigung der Klassen zu haben, wird deren Führung Teil der herrschenden Klasse, wenn sie die Kommandoposten der Herrschaft übernimmt, und wird auch erfahrungsgemäß in der Regel korrumpiert. Wie das Beispiel Chinas zeigt, ist sogar eine Ausrichtung auf Beseitigung der Klassen noch keine 100-prozentige Garantie, daß es für immer zu einem Erfolg auf diesem Gebiet kommt und die Einflüsse der Klassengesellschaft bereits im ersten Ansturm überwunden werden. Das war bei früheren gesellschaftlichen Fortschritten auch nicht anders. Und wo die Zivilisationsentwicklung vorher fast nur despotische Herrschaft kannte, ist es auch nicht völlig überraschend, daß sich solch ein despotischer Zug der Klassenherrschaft wieder durchsetzt, das kann man nicht allein den Charaktereigenschaften einzelner Handelnder zuschreiben. Die Überwindung solcher Zustände ist vor allem eine Aufgabe der betreffenden Völker selbst, sie müssen sich auch selbst umwandeln und weitergehen, und das kann ganz sicher nicht durch eine ausländische Fremdherrschaft erfolgen.
Das heißt aber überhaupt nicht, daß eine Bewegung zur nationalen Befreiung deshalb sinnlos ist, sie bedeuten einen notwendigen Schritt vorwärts. Wir sehen es heute an vielen Beispielen gerade in dieser Region, im Irak, in Syrien, in Libyen, was die Beseitigung solcher Regime von außen durch imperialistische Mächte vor allem bringt: Die Durchsetzung von Regimen, die einen gewaltigen Schritt rückwärts bringen. Was soll denn sonst sein? Eine Beseitigung solcher Regime, die doch irgendwie die nationale Befreiung mit im Hintergrund ihrer Entstehung haben, wenn sie noch dazu unter Anrufung der ausländischen Imperialisten erfolgt, deren Oberherrschaft man doch vorher abstreifen wollte, was soll da Anderes herauskommen, als ein gewaltiger Rückschritt, als ein viel reaktionäreres Regime? Saddam Hussein, das Assad-Regime, Ghaddafi hatten auch despotische Züge? Gegenüber dem, was gegen sie durchgesetzt werden sollte, nicht in wohlfeilen Sprüchen sondern real, erscheinen sie deutlich positiver. Es gibt eben nicht nur Schwarz oder Weiß, sondern auch scheckige Muster mit Schwarz und Weiß und Grauschattierungen in unterschiedlicher Verteilung, aber die Gestürzten leuchten eher heller gegenüber den von den Imperialisten eingesetzten Statthaltern. Das mag dem Einzelnen, dem unter dem früheren Regime Unrecht getan wurde, nicht einleuchten, das ist nachvollziehbar, aber insgesamt ist das so. Deshalb erzählt man hierzulande gern die Geschichte solcher Einzelner, wo Schwarz und Weiß so verteilt ist, wie man das haben will. So kann man allerdings jede Parteinahme begründen, wenn man nur das passende Einzelbeispiel findet.
Was man aus dem Fall Claas Relotius lernen kann
Da kommen wir zum aktuellen Fall Claas Relotius hier in Deutschland, da kann man in diesem Zusammenhang gar nicht vorbeigehen. Da sind wir auch wieder bei der Rolle der Medien. Was war die eigentliche Ursache seines Aufstiegs? Er bediente das Bedürfnis, die aktuelle imperialistische Politik zu rechtfertigen, gerade auch durch plastische und emotionale Schilderung von Einzelbeispielen, so wie das überhaupt heute üblich ist, auch in der Fernsehberichterstattung. Da wird auf der Seite des Gegners natürlich nur das Negativste herausgepickt. Man zeigt getötete Kinder, weinende Frauen, zerstörte Häuser und Autos und sagt: Seht, das hat der böse Feind gemacht. Die von den eigenen Kräften getöteten Kinder, zur Verzweiflung gebrachten Frauen, zerstörten Häuser und Autos zeigt man möglichst nicht oder leugnet gleich überhaupt, daß es sie in nennenswerter Zahl gibt, wie die USA das zum Beispiel in Syrien machen. Natürlich ist nur der Feind, aktuell auch gern der Klimawandel, oder das Schicksal schuld. Und Claas Relotius bediente ganz besonders den Bedarf nach Geschichten, die man zur emotionalen Beeinflussung brauchte. Und wenn er nichts Geeignetes zum Herauspicken fand, was sich gut für die emotionale Beeinflussung eignete, dann erfand er das eben zur Not und mischte das mit passenden Fakten. Da macht er es auch nicht anders als bisweilen unsere „Qualitätsmedien“, wenn sie nicht die passenden Bilder finden: sie greifen in ihr Archiv und finden dort passende, die sich umdeuten und so recyceln lassen. Solche Fälle wurden bereits aufgedeckt. Und wer wird schon einen solchen brauchbaren Handlanger unterminieren wollen, wenn er nicht unbedingt muß? Wer dreist lügt und das geschickt tut, der kommt dabei eher weiter als der, der bei der Wirklichkeit bleiben will und alle Widersprüchlichkeiten und Ungenauigkeiten dabei in Kauf nimmt. Aber dann, wenn es im Einzelfall nicht anders geht als die Fälschungen aufzudecken, überbietet man sich in Empörung, denn in Zukunft will man so weitermachen, und die eigene Rolle soll dabei natürlich geschönt werden.
Wenn man sich heute in den Medien nicht entblödet, ein angeblich zu verhinderndes Machtvakuum als Begründung für einen Einmarsch der Türkei wiederzugeben, ist der neokolonialistische Geist dahinter jedoch in einer seltenen Weise offen. Es stecken wohl irgendwelche Deals dahinter, zwischen den „großen Playern“ der imperialistischen Rivalität in diesem Raum, deshalb kann das so offen gemacht werden. Syrien und seine Bevölkerung, ob kurdisch oder nicht, ist dabei nur Spielball, den jeder herumtreten darf, so wie man ja auch mittlerweile Israels Begründung einfach so wiedergibt, in dieses Land militärisch einzufallen, weil sie den Einfluß des Iran dort nicht wollen, während der Einfluß Saudi-Arabiens dort gleichzeitig gefördert wird, was eben nur eine Parteinahme im Machtkampf zweier lokaler Hegemoniemächte ist, über die Köpfe der Syrer hinweg, die anscheinend überhaupt nicht mehr zählen. Deren Land zerreißt es, deren Menschen müssen es ausbaden.
Die Völker in dieser Region haben das Recht, ihre Probleme selbst zu lösen. Was dort als normal hingenommen wird, einschließlich des Messens mit doppelten Maßstäben, wo man in den Medien je nach Interessenlage mal Grausames anprangert mit anscheinend immenser Empörung und mal nicht so genau hinsieht oder nicht sehen will, wo man sich auch bisweilen nicht um sein Geschwätz von gestern schert, wenn Allianzen oder Kräfteverhältnisse sich ändern, das ist schon von der Qualität einer parteiischen Kriegsberichterstattung. Und daß sich die großen Hegemonialmächte und Strippenzieher dabei direkt in die Haare kriegen und ein noch größerer Krieg daraus entsteht, das wird immer wahrscheinlicher, je länger das da so geht und als normal hingenommen wird. Alle raus aus diesem Land, einschließlich das von überall her zusammengekarrte Gesindel des IS und ähnlicher Milizen! Ohne die Aggression auch gegen den Irak und Libyen, ohne ausländische Einmischung, wäre der Krieg und Bürgerkrieg dort wahrscheinlich schon längst zuende, wäre er jedenfalls nicht so hochgekocht.
1 Al Nusra war ursprünglich der lokale Arm von Al Kaida, der IS hat sich in Syrien stark vergrößert, indem er einen Teil von ihnen abgespalten hat, indem er sich noch radikaler gebärdete. Al Nusra hat sich inzwischen umbenannt in Tahrir al-Sham und ist angeblich nicht mehr verlängerter Arm von Al Kaida, was aber stark zu bezweifeln ist. Eher geht es wohl darum, die Spuren zu verwischen, damit man besser mit den USA und Verbündeten Verbindungen aufrecht erhalten kann, bis hin zu Waffenlieferungen, was bereits verschiedentlich erfolgt ist. Auch in unserer Presse folgt man bisweilen den USA darin, diese Kräfte in „gute“ Rebellen umzudeuten, wenn ihnen vernichtende Niederlagen drohen, so im Fall von Aleppo, wo sie einen Teil der Stadt unter Kontrolle hatten und dort rausgeworfen wurden. Daß es da einen erbitterten Kampf darum gab, bei dem die Zivilbevölkerung furchtbar gelitten hat, wurde genutzt, um sie als die Verteidiger der Zivilbevölkerung darzustellen, was man aber nicht machte, als dieser Teil der Stadt von ihnen erobert wurde, wobei es auch zu vielen Grausamkeiten kam.
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