Internet Statement 2021-84

 

 

 

Das wird ihnen noch leid tun

 

– prompt eine große und eindrucksvolle Demonstration gegen die überfallartige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

 

 

Wassili Gerhard  18.04.2021

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, sozusagen in einer Nacht- und Nebelaktion den Berliner Mietendeckel für nichtig zu erklären – eigentlich war eine Entscheidung im Sommer erwartet worden – brachte quasi über Nacht viele tausend Berliner, viele davon junge Menschen, spontan zu einer der größten Demonstrationen der letzten Zeit zusammen.

 

Als die Spitze des Zuges am Kottbusser Tor anlangte, war das Ende noch nicht vollständig vom Hermannplatz weggekommen. Für Nichtberliner: Das ist eine Länge von 1,4 Kilometern. Schätzungen von einer Zahl zwischen 10 und 20.000 sind realistisch, denn die Demonstranten liefen auf beiden Fahrspuren der breiten mehrspurigen Straße. Und das mit einigen Stunden Vorlauf, organisiert von ehrenamtlichen Aktivisten des Mietenwahnsinn-Bündnisses und hauptsächlich über Social Media und Mailinglisten bekanntgemacht.

 

Die Demonstration trug einen sehr kämpferischen Charakter. Es wurde Enteignung gefordert, nicht nur im Rahmen der bekannten Kampagne, sondern auch generell. Der Grund und Boden soll allen gehören, hieß es in Reden. Wenn die Herren in den roten Roben und ihre Auftraggeber, indem sie zeigten, daß für sie die Interessen der Immobilienbesitzer und Finanzinvestoren einzig zählen, auf eine Demoralisierung der Mieterbewegung gesetzt haben, dann haben sie sich geschnitten. Das Gegenteil ist passiert.

 

Eigentlich sollte der Mietendeckel ursprünglich die Bewegung befrieden. Er war ja nicht das Ziel der Bewegung. Aber wenn er erst einmal da ist, dann muß er auch dagegen verteidigt werden, daß er einfach so wieder weggenommen wird, damit der Mietenwahsinn wieder ungebremst weitergehen kann. Immerhin hat er hunderttausenden Mietern eine Verbesserung gebracht. Auch am Anfang mußte schon dagegen gekämpft werden, daß die ursprüngliche Konzeption immer weiter eingeschränkt wurde, angeblich um ihn rechtssicher zu machen. Für die Justiz, für die die Rechte der Immobilienbranche und der Finanzinvestoren dominant sind, war er es auch so nicht. Ein Zurückweichen ermutigt sie nur.

 

Letztenendes ist es auch eine Frage der politischen Kräfte und Verhältnisse. Da gibt es Erfahrungen. Als es nebenan in der DDR ein Gegenmodell einer anderen Gesellschaft gab, wo bei allen Unzulänglichkeiten dieses Staates doch immerhin viele neue Wohnungen mit gutem Standard und niedrigen Mieten neu gebaut wurden, da konnten interessanterweise auch in der Bundesrepublik Millionen erschwingliche Wohnungen in einem gemeinwirtschaftlichen Modell kostengünstig gebaut werden, also auf eine nicht gerade typisch kapitalistische Weise. Die will man heute am liebsten wieder abreißen, denn die damalige Herausforderung ist in dieser Form inzwischen Geschichte. Als in den achtziger Jahren absehbar wurde, daß die DDR am Scheitern war und inoffiziell Verhandlungen über eine künftige Konföderation geführt wurden, da wurde auch das Ende des gemeinwirtschaftlichen Wohnungsbau beschlossen, was passenderweise genau Ende 1989 in Kraft trat.

 

Die grundsätzliche Infragestellung des Kapitalismus, des Privateigentums an den Produktionsmitteln und an Grund und Boden, hat also auch die größten Reformen hierzulande möglich gemacht, auch den umfangreichen Bau von preiswerten Wohnungen. Aber sich damit zufrieden zu geben, zu sagen, daß es ja nun im Kapitalismus nicht mehr so schlimm sei, wie das manche taten, und nur noch im Rahmen dieses Systems weiter zu denken, trägt schon den Rückschlag in sich. Wenn man Erfolge erzielt und Zugeständnisse erreicht, dann muß der Kampf weitergehen, denn der Gegenschlag wird mit Sicherheit vorbereitet. Niemals werden sie freiwillig ihre Macht abgeben, und niemals werden sie ihr System des Maximalprofits freiwillig aufgeben.

 

Sich mit solchen Regelungen zufrieden zu geben, hat noch eine weitere Seite. Es spaltet objektiv, denn es hilft nur einem Teil. Der Mietendeckel hat vor allem jene geschützt, die bislang noch eine bezahlbare Wohnung haben. Sie sollen natürlich auch geschützt werden, aber das ist nicht genug.

 

·  Die Mieten sind schon länger überhaupt zu hoch, viele bezahlten auch mit Mietendeckel noch viel zuviel ihres Einkommens für Miete.

·  Gleichzeitig gibt es geschätzt 40.000 bis 50.000 Menschen in Berlin, die in Notquartieren wohnen, Tendenz steigend, auch Beschäftigte in schlecht bezahlten Berufen, Alleinerziehende, Rentner, junge Menschen, Familien. Und 10.000 sind sogar ganz ohne feste Unterkunft, leben teilweise auf der Straße.

·  Weiter werden vor allem in den Stadtteilen mit steigenden hohen Bodenpreisen generell billige Wohnungen beseitigt, weil mit ihnen nicht die erwartete Rendite aus dem Grundstück erzielt werden kann, für die sie gekauft wurden. Das geht inzwischen bis zum Abriß ganzer Wohnkomplexe aus den den fünfziger und sechziger Jahren, und sogar noch danach, die extra als günstiger Wohnraum errichtet wurden.

Das schafft weitere Wohnungs- und Obdachlosigkeit, vor der eben kaum einer wirklich sicher ist auf Dauer, so lange nicht das Privateigentum an Grund und Boden beseitigt ist, auch wenn die Herrschenden manchmal zeitweilig Kreide fressen, wenn es zur Aufrechterhaltung ihrer Macht notwendig ist. Es ist auch kein Wunder, daß heute Kinderarmut so skandalös hoch ist, daß die Geburtenrate so niedrig ist, denn eine für Niedrig- und Normalverdiener bezahlbare familiengerechte Wohnung ist immer schwerer bis garnicht zu finden.

 

Schon vor 150 Jahren beschrieb F. Engels solche Zustände und stellte fest, daß man die Übel des Kapitalismus letzlich nicht beseitigen kann, ohne den Kapitalismus selbst zu beseitigen. Auf jeden Fall muß man alle diese Erscheinungen als einen zusammenhängenden Komplex sehen, wo kein Problem für sich alleine gelöst werden kann. In diesem Sinne sollte die Bewegung den neuen Schwung nutzen und dafür sorgen, daß ihnen das noch kräftig leid tun wird.

 

 

 

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