Ein Diskussionsbeitrag zur Einschätzung des Islam und zu Fragen der Frauenbewegung in Afghanistan 

 

Offener Brief an Aktivistinnen der Revolutionären Vereinigung der Frauen Afghanistans (RAWA)

Liebe Freundinnen,

Laßt mich zunächst meine Grüße und meine besten Wünsche für immer größere Erfolge unter den gegenwärtigen kritischen Umständen aussprechen.

Ich empfand die Notwendigkeit, diesen Brief zu schreiben, nachdem eine Eurer Genossinnen auf einer Konferenz in Köln am 17. Dezember des vergangenen Jahres eine Rede gehalten hatte. Wichtige Fragen zu dieser Rede blieben auf dieser Konferenz wegen Zeitmangels und dem Fehlen von Diskussionsmöglichkeiten unbeantwortet. Als eine Aktivistin des Kampfes für die Rechte der Frauen finde ich es daher notwendig, gerade unter den jetzigen kritischen Bedingungen, die folgenden Punkte mit Euch zu diskutieren.

Es ist ein glücklicher Umstand, daß in diesen Tagen die Frauenfrage in Afghanistan die Aufmerksamkeit der Menschen auf der ganzen Welt erregt hat, und daß eure Organisation dabei im Brennpunkt steht. Es ist eine Tatsache, daß die Frauenbewegungen in Afghanistan, Iran, Algerien und anderen - wie ich es nenne - vom Islam geschlagenen Ländern miteinander zusammenhängen. Ihr gebt sicher zu, daß jeder Rückschlag oder Vorstoß bei einer Sektion seine Wellen zu den anderen Sektionen ausschickt und sie direkt betrifft. Wenn jetzt die Frauenfrage in Afghanistan im Bewußtsein der Menschen stark präsent ist, muß man daher diese Gelegenheit nutzen, um sie mit zutreffenden Informationen über die Ursachen der Frauenfragen in den vom Islam geschlagenen Ländern zu versorgen, und ebenso über ihre Lösungen. So können wir dazu beitragen, eine starke, umfangreiche internationale Solidaritätsbewegung mit den Millionen von Frauen in diesen Ländern aufzubauen.

Das Grundproblem, mit dem wir alle in den Frauenbewegungen in den vom Islam geschlagenen Ländern konfrontiert sind, besteht darin, daß diese Länder innnerhalb ihrer Grenzen Millionen von Frauen ihre sozialen, politischen und ökonomischen Rechte genommen haben allein aufgrund ihres Geschlechts. Islamistische Staaten und/oder islamistische Terrorkommandos haben zu den Waffen gegriffen, um den Frauenwiderstand gegen ihre Versuche, islamische Gesetze und Normen durchzusetzen, gewaltsam zu unterdrücken. Daher ist der Islam, der - politisch oder nicht.politisch - sich als Staatsgewalt formiert, ein Problem. Er hat durch frauenfeindliche Gesetze und/oder beispiellosen Terror und Gewalt Frauen in Afghanistan, Iran, Algerien, Sudan, Saudi-Arabien usf. in vielfältiger Weise Schlimmes angetan. 

Ihr von RAWA sprecht immer von der Kritik am fundamentalistischen Islam, und nicht am politischen Islam oder dem Islam als Staatsgewalt. So auch Shahla, eure Vertreterin auf der Kölner Konferenz. Wir sollten uns jedoch bewußt sein, daß es die westlichen Mächte waren, die einen Unterschied im Islam entdeckt haben, die mit der Formel vom fundamentalistischen Islam vis-avis dem Islam als solchem ankamen und sich darum bemüht haben, das zu einem gebräuchlichen Ausdruck zu machen. Sie haben das getan, um sich auf Umstände vorzubereiten, wo Haß auf den politischen Islam unter den Menschen aufflackert, es aber weiter notwendig bleibt, die Intervention der Religion in ihr Leben als unterdrückerischer Macht zu erhalten, und die radikalen, säkularen Strömungen in der Gesellschaft zu unterdrücken. Heute braucht man nicht einmal mehr einen theoretischen Streit, um die verborgenen Absichten zu erkennen, die hinter der Unterscheidung des fundamentalistischen Islam vom sog. „vernünftigen“ Islam, des schlechten vom guten Islam stecken. Wir können deutlich sehen, wie sie dabei hilft, die afghanischen Mudjahedin, gerade nach dem Sturz der Taliban, zu einem Teilhaber der zukünftigen Staatsmacht in Afghanistan zu machen, und die Erwartung zu wecken, daß sie den nichtfundamentalistischen, vernünftigen Islam zur Geltung bringen. Wäre es denn nicht höchste Zeit, nach all den Leiden, die das afghanische Volk durchmachen mußte, den Eingriff der Religion in das Leben der Menschen in jeder Art, Form und Methode zu beenden und die Trennung von Moschee und Staat zu erklären? Wenn Ihr diese Unterscheidungsformel akzeptiert, entwaffnet Euch das im Widerstand gegen das, was der Westen jetzt in Afghanistan zusammenbraut. Heute besteht die offizielle Politik des Westens in der Unterstützung für den „nicht-fundamentalistischen“ Flügel des Islam. Diese infame Formel, die natürlich für die Interpretation entsprechend den Tagesinteressen offen ist, wurde ursprünglich geprägt, um diesem Zweck genau in solchen Tagen wie heute in Afghanistan zu dienen. Ich bestehe darauf, daß Aktivisten der Frauenrechte nicht dieser Unterscheidung im Islam auf den Leim gehen sollten.

Der zweite Punkt, auf den ich hier eingehen möchte, ist die Strategie der Frauenbewegung in Afghanistan unter den gegenwärtigen Umständen. Meiner Meinung nach ist es heute ganz wesentlich, auf der Trennung der Moschee vom Staat und der Aufhebung aller religiösen Gesetze zu bestehen, d.h. auf der Säkularisierung des Staates. Es ist nicht schwer vorauszusehen, daß unser nächster Kampf in Afghanistan sich tatsächlich auf einem Feld abspielen wird, wo die Herrschenden weiter den Radikalismus kritisieren - wie es Sima Samar, eine der Ministerinnen in der Interimsregierung in ihrem ersten Interview mit der BBC getan hat - ,  der Abschaffung der islamischen Gesetze aber ausweichen werden, wobei sie murrend ein paar kleinere Änderungen zugestehen; während doch eine durchgängige Neufassung der Gesetze eine Bastion ist, die unsere künftigen Fortschritte in Afghanistan garantieren wird. Es geht nicht darum, von Herzen an eine gesunde progressive These zu glauben, sondern darum, sie als Kommandohöhe zu sehen und zu behaupten, deren Eroberung Teil der Strategie der afghanischen Frauenbewegung  sein muß, damit sie vorankommt.

Eure Vertreterin auf der Konferenz hat von der Notwendigkeit internationaler Solidarität mit RAWA gesprochen und, als Antwort auf eine Frage nach den Formen, die diese annehmen könnte, nur die Sammlung und Übermittlung von Geldmitteln erwähnt. Ich glaube, daß unter den jetzigen Umständen, wo insbesondere die Frauenfrage in Afghanistan die Beachtung von Organisationen gefunden hat, die  für die Rechte menschlicher Wesen und die Rechte von Frauen eintreten, eine klare Strategie dasjenige ist, was deren umfangreiche und wirksame Solidarität sichern kann. Die Grundprinzipien einer derartigen Strategie sollten enthalten: Trennung der Moschee vom Staat; Aufhebung aller Geschlechts-Apartheid-Bestimmungen, am dringendsten die der Zwangsverschleierung; Aufhebung aller islamischen Gesetze, am wichtigsten ist dabei die völlige Abschaffung der islamischen Strafgesetzgebungen; Verabschiedung und Durchsetzung von progressiven, modernen Gesetzen, die der Wohlfahrt der Frauen dienen. Die Sammlung von Geld, obwohl von vitaler Bedeutung, ist unter den gegenwärtigen Umständen nicht ausreichend.

Was die erwähnten Organisationen betrifft, so muß man sich bewußt sein, daß sie unter ernsten Mängeln leiden, deren Erkenntnis uns nur dabei helfen sein kann, wenn wir ihre Unterstützung und ihre Solidarität in Anspruch nehmen. Sie repräsentieren Bewegungen, die, häufig ohne es zu wollen, die Frauenfragen in vom Islam geschlagenen Ländern durch die Brille sehen, die ihnen die westlichen Staaten geben. Die vorherrschende Ansicht unter ihnen ist, daß die Menschen in vom Islam geschlagenen Ländern eine Art mittelalterliche Kultur haben, und daß die islamistische Bewegung und der islamistische Terrorismus die „natürlichen“ Folgen dieser Kultur seien. Das ist eine reaktionäre These, die auf der Theorie des kulturellen Relativismus basiert. Infolge dieser reaktionären These wird die Allgemeingültigkeit der Rechte der Frauen bestritten, und in der Praxis wird ihren grundlegenden, modernen menschlichen Forderungen Widerstand geleistet, bei denen Menschheit vor hundert oder mehr Jahren angekommen ist. Wie traurig war es zu sehen, daß wir auf der Kölner Konferenz, mitten in Europa, einige der Aktivistinnen der europäischen Frauenbewegung überzeugen mußten, daß die Menschen nicht dagegen sein werden, wenn in Afghanistan die Trennung der Moschee vom Staat angekündigt wird! Wir mußten sie davon überzeugen, daß im Gegenteil es die Forderung des Volkes ist, daß die mafiotischen islamistischen Banden von der Macht abgeschnitten werden. Was die Menschen wollen, ist ein freies, würdiges, menschliches Leben. Das ist so einfach, und trotzdem mußten wir sie erst davon überzeugen! Daher bildet die Auseinandersetzung mit solchen Organisationen und die Kritik an ihren falschen vorurteilsbeladenen Thesen einen bedeutenden Teil unseres Kampfes. Wir können keinen einzigen Schritt in Richtung einer starken, wirksamen Solidaritätsbewegung tun, ohne zunächst solche Thesen anzugreifen und die Allgemeingültigkeit der Frauenrechte zu verteidigen.

Die Politik des Westens in Afghanistan heute besteht darin, eine folgsame, jedoch immer noch islamische und ethnisch basierte Regierung zu unterstützen. Dieses Szenario definiert auch die Rolle, die von Organisationen für die Rechte menschlicher Wesen und auch von Frauenrechtsorganisationen gespielt werden soll. Diese Organisationen sprechen von keinerlei radikalen Änderungen, sondern engagieren sich bestenfalls in einigen „non-profit“-Projekten. Die Aktivisten der Frauenbewegung  in Afghanistan haben die sehr bedeutsame Aufgabe, dieses Szenario zu bekämpfen. Sie sollten direkt und deutlich das Prinzip aussprechen, daß, wenn wir wünschen, daß sich das Leben der Frauen ändert, wir von der Notwendigkeit sprechen müssen, das Gesetz zu ändern. Wir müssen für die Abschaffuing von Gesetzen und Normen der Geschlechts-Apartheid in ihrer Gesamtheit agitieren. Vor allem müssen wir für die Trennung der Moschee vom Staat agitieren. Das ist unsere Trumpfkarte in dem gefährlichen politischen Spiel, das der Westen in Afghanistan begonnen hat. Sie hilft uns, schließlich der Welt klarzumachen, daß die fundamentale Lösung für die Frauenfragen in den vom Islam geschlagenen Ländern in der Trennung der Moschee vom Staat besteht, und daß der sog. „liberale“ oder „vernünftige“ Islam sich schließlich als etwas entpuppen wird, das so ähnlich wie die islamische Republik Iran ist, die bis heute hunderte von Frauen aufrecht in den Boden eingegraben und zu Tode gesteinigt hat, und ganz allgemein den Menschen ihre allerelementarsten menschlichen Rechte verweigert. hat. Diese Tatsachen sind in der letzten Zeit von der grauenhaften westlichen Propaganda zugedeckt worden, die den Präsidenten Khatami als vernünftig und liberal darstellt.

Liebe Freundinnen!

Es ist günstig, daß sich so viel Aufmerksamkeit heute auf Eure Organisation konzentiert. Diese Gelegenheit sollte voll genutzt werden, um nicht als eine periphere, gesichtslose Organisation aufzutreten, sondern als eine Organisation mit vielen bekannten Persönlichkeiten, die den Machtanspruch mitten im Zentrum der politischen Arena Afghanistans und unter den Augen der Völker rund um die Welt erhebt. Diese Situation voller Möglichkeiten sollte man für die Agitation für grundlegende Änderungen nutzen, und auf diese Weise auch die Aufmerksamkeit und die Sympathie von Frauenbewegungen in vom Islam geschlagenen Ländern zu beanspruchen.

Die Kämpfe der progressiven Frauenbewegung in Afghanistan und ihre Erfolge sind von vitaler Bedeutung für uns alle, die Aktivistinnen in den progressiven, egalitären Strömungen der Frauenbewegungn in den vom Islam geschlagenen Ländern. Im Bewußtsein dieser Tatsache werden wir alles uns Mögliche tun, alle progressiven internationalistischen Prinzipien zu verteidigen und durchzusetzen.

Ich wünsche Euch von Herzen alles Gute in Eurem fruchtbringenden Kampf

Sieg den Kämpfen der afghanischen Frauen um menschliche Würde!

Lang lebe die internationale Solidarität der egalitären Frauenbewegungen!

In Solidarität,
Mina Ahadi

25. Dez. 2001

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