Rede in der Debatte zu Kosovo und EU-Sondergipfel
(Auszug)
Bundesminister Fischer vor dem Deutschen
Bundestag am 26. März 1999
"Es war und ist eine historische Woche für Europa. Wir haben es mit einem sehr ungewöhnlichen Zusammentreffen dreier Krisen, dreier großer Herausforderungen zu tun, die auf dem Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs in Berlin räumlich zusammengefügt wurden: Das war die durch den Rücktritt der Kommission ausgelöste institutionelle Krise der Europäischen Kommission; das war die Agenda 2000; und das war der beginnende Krieg im Kosovo.
Es gibt dabei einen sehr engen inneren Zusammenhang, der sich auf den ersten Blick überhaupt nicht erschließt. Ich wurde oft von Journalisten gefragt, ob denn der Einigungsdruck auf die Staats- und Regierungschefs wegen der Krise im Kosovo jetzt größer sei. Ich habe immer geantwortet: Nein, diesen direkten Zusammenhang gibt es nicht. – Was aber zu spüren war, war das größere Maß an Verantwortung, das auf diesem Gipfel auf den Schultern der Staats- und Regierungschefs ruhte, eben weil es diesen Zusammenhang gab und weil klar war, daß der Kosovo direkt und unmittelbar eine Krise in Europa ist, durch Europa gelöst werden muß und daß wir uns nicht wegdrehen können und dürfen. Vielmehr muß uns bewußt sein, daß diese Krise, daß dieser Krieg auf dem Balkan, der nicht erst in dieser Woche begonnen hat, sondern seit längerem tobt – mal ein heißer Krieg, mal ein weniger heißer Krieg, aber immer gleich brutal – ein Teil Europas ist und von den Europäern gelöst werden muß.
Gleichzeitig haben alle gespürt, wie wichtig es ist, dieses Europa voranzubringen. Sicherlich sind Milchquote, Interventionspreise und Anteile an den Strukturfonds ebenfalls eminent wichtige Fragen. Aber Europa kann dabei nicht stehenbleiben. Die Lösung dieser Fragen in Verbindung mit der Wahrung der Unverletzlichkeit der Menschenrechte, Demokratie und Freiheit des Individuums, auf denen dieses Europa gründet, ist letztendlich die gemeinsame Wertegrundlage. Das war in Berlin zu spüren. Beide Bereiche haben die Staats- und Regierungschefs zum Gegenstand ihrer Beratungen in Berlin gemacht. Sie haben eine Erklärung unter Teilnahme der neutralen Staaten verfaßt, in der sie klargestellt haben, daß wir Europäer eine Politik der Gewalt, eine Politik des Mordens und eine Politik des Vertreibens nicht akzeptieren dürfen und nicht akzeptieren werden.
Das sind die Gründe dafür, daß wir einerseits der Gewaltpolitik von Herrn Milosevic Einhalt gebieten müssen. Auf der anderen Seite müssen wir durch die Lösung der EU-Finanzprobleme einen wichtigen Schritt in Richtung Aufbau einer Europäischen Union als ein handlungsfähiges politisches Subjekt tun. Dieser Zusammenhang war in Berlin spürbar. Er bestand und besteht.
Ich habe gesagt, daß der Krieg im Kosovo ein Krieg in Europa ist und uns deshalb unmittelbar angeht. Lassen Sie mich zu diesem Punkt gerade im Hinblick auf die gestrige Debatte, deren Verlauf ich den Zeitungen entnommen habe, noch einiges anfügen: Die Bundesregierung hat gemeinsam mit unseren Partnern nun wirklich alles versucht, um Belgrad eine Brücke zu bauen – und zu diesen Partnern rechne ich ausdrücklich auch Rußland; ich habe ständig telefonischen Kontakt mit dem russischen Außenminister Iwanow; Herr Kollege Gysi, ich möchte Ihnen nicht mitteilen, was er mir über seinen Eindruck nach seinem letzten Belgrad-Besuch gesagt hat, weil das die Vertraulichkeit verletzen würde; aber ich kann soviel sagen, daß seine Einschätzung der Motive und der Politik in Belgrad nicht sehr weit von meiner entfernt war. Dick Holbrooke, der Sonderbotschafter der USA, den Ihre Partei, Herr Gysi, allzu gerne als Kriegstreiber hinstellt, hat Milosevic noch in der letzten Sekunde das Angebot gemacht: Stoppe deine Soldateska im Kosovo! Führe nicht eine abschließende Beschlußfassung des serbischen Parlaments herbei. Wenn du das befolgst, dann können wir weiterverhandeln. So sah das Angebot in der letzen Sekunde aus. Es ist ausgeschlagen worden, wissend, was dann passiert. Insofern trägt Milosevic an dem jetzigen Krieg die alleinige Schuld und eine schwere Verantwortung.
Im Rahmen der EU, der OSZE und im UN-Sicherheitsrat wurde alles versucht, um eine friedliche Lösung zu finden. Es kann doch nicht wahr sein, daß ein Krieg gegen die eigene Bevölkerung und die Unterdrückung einer großen Minderheit im eigenen Land wieder zum europäischen Standard des 21. Jahrhunderts gehören. Das ist nicht der einzige Punkt. Erinnern wir uns: Es begann im Kosovo 1989, und zwar mit der Aufhebung des Autonomiestatuts. Ich darf Sie auch an den Krieg in Slowenien erinnern, der allerdings auf Grund der entschiedenen Gegenwehr der Slowenen – Gott sei Dank – sehr kurz war. Ich darf Sie an Dubrovnik und an Vukova erinnern. Im Rückblick muß man sagen, spätestens nach Vukova hätte die internationale Staatengemeinschaft eingreifen müssen.
Ich darf Sie an die furchtbaren Grausamkeiten im Bosnien-Krieg erinnern. Ich darf Sie immer wieder an dieselben Erfahrungen erinnern: Es wurde immer wieder versucht, den Krieg zu verhindern. Es wurde immer wieder versucht, einen Friedensvertrag auszuhandeln. Die einzige Konsequenz war, daß der Vertrag gebrochen wurde und daß die Politik der Gewalt weitergegangen ist. Deswegen möchte ich mit allem Nachdruck den Vorwurf zurückweisen, daß wir hier von deutschem Boden aus eine Politik des Krieges betreiben. Wir können nicht zulassen, daß sich in Europa eine Politik der Gewalt durchsetzt, eine Politik, die keine Skrupel hat, Gewalt einzusetzen, und die bereit ist, über Leichen zu gehen, auch wenn es Tausende, Zehntausende oder Hunderttausende Tote bedeutet. Das ist keine Theorie, sondern Praxis auf dem Balkan; sie ist als Ergebnis der Politik von Milosevic zu sehen. Wenn das geschieht, würde das nicht nur unsägliches Leid für die Menschen in der betroffenen Region, sondern auch eine Gefährdung für Frieden und Sicherheit in dieser Region mit fatalen Konsequenzen bedeuten. Deswegen muß diesem jetzt Einhalt geboten werden.
Dies ist nicht mit einer Aggressionspolitik vergleichbar, die aus nationalistischer Überhebung oder gar aus verbrecherischer rassistischer Verblendung entstanden ist und für die das Deutsche Reich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zweimal verantwortlich war. Wir sind in die internationale Staatengemeinschaft, also in die Demokratien der EU und der NATO, eingebunden. Diese Demokratien riskieren jetzt das Leben ihrer Soldaten, um Menschenleben zu retten und vor allen Dingen um einen Friedensvertrag durchzusetzen.
Es war für mich einer der deprimierendsten Tage, als klar war, daß die Konfrontation nicht mehr aufzuhalten ist, weil ein Frieden mit der langfristigen Konsequenz einer Gesamtordnung auf dem Balkan nicht zu erreichen war. Was notwendig gewesen wäre, liegt auf dem Tisch; wir können es mit Händen greifen: zunächst das Autonomiestatut von Rambouillet und als nächstes dann eine Friedenskonferenz für den südlichen Balkan mit einem langfristigen Engagement von Europäischer Union und dem Westen für eine Gesamtordnung. Der einzige, der das verhindert, ist Milosevic mit seiner Gewaltpolitik. Der Kosovo würde Bestandteil nicht nur Jugoslawiens, sondern auch Serbiens bleiben; das war das Ziel der internationalen Staatengemeinschaft. Milosevic müßte nur ja sagen; aber er hat immer nur nein gesagt.
Für mich ist ganz entscheidend, daß die Verantwortung bei Milosevic liegt. Es hätte nur eines Wortes bedurft und es bedarf auch heute nur eines Wortes, um die Konfrontation zu beenden, nämlich des Wortes: Wir wollen substantiell verhandeln und unterschreiben. In dem Moment wäre die Konfrontation beendet, und wir könnten dann über den Frieden und die Implementierung des Friedens reden. Dies ist der einzige Weg.
Wir haben uns unmittelbar für die Flüchtlinge und die Flüchtlingshilfe verwandt. Die Stützung von Mazedonien, von Albanien und von Montenegro ist uns ein ganz entscheidender Punkt. Darüber hinaus stehen wir in enger Kooperation mit den Partnern
– das gilt nicht nur für den Gipfel von Berlin, sondern auch für die USA und Rußland -, um eine weitere Friedensinitiative zu ermöglichen. Aber dies alles wird nur bei einer klaren Absage von Milosevic an eine Politik der Gewalt gehen. Wenn er diesen Schritt nicht tut, dann kann die Konfrontation nicht enden. Die Voraussetzung für Frieden ist der Verzicht auf Gewalt. Wir können nicht Friedensgespräche führen, wenn im Kosovo das Morden durch die jugoslawische Armee und die serbische Sonderpolizei weitergeht; das ist kein Frieden. Deswegen möchte ich auch von dieser Stelle aus noch einmal an die Verantwortlichen in Belgrad appellieren, endlich umzukehren und den Weg zum Frieden zu ermöglichen...."
Quelle: http://www.auswaertiges-amt.de/6_archiv/inf-kos/R/R990326d.htm