Internet Statement 2007-24

 

Eine aufsehenerregende Ausstellung zur europäischen Völkerwanderungszeit in Moskau

- mit dem Schwerpunkt: Archäologie der Franken und der Merowingerkönige

Walter Grobe 12.3.2007        

Die Ausstellung „Merowingerzeit - Europa ohne Grenzen“, dieser Tage in Moskau eröffnet, findet starke Beachtung in den Medien, nicht ohne Grund. Sie präsentiert archäologische Fundstücke der Völkerwanderungszeit, des 5. Jahrhunderts und der folgenden Zeit, aus verschiedenen Regionen Europas bis hin zum Ural, und wird u.a. deswegen gelobt, weil sie eine Zusammenschau der Entwicklungen in verschiedenen Regionen und Völkern der damaligen Zeit ermögliche. Ein Schwerpunkt liegt den Berichten zufolge auf Funden der Merowingerzeit, die hierzulande zumeist als „Beutekunst“ bezeichnet werden, weil sie beim Kriegsende 1945 aus Berliner Museumsbeständen in die Sowjetunion verbracht worden waren. Zum ersten Mal seit über 60 Jahren würden diese Bestände seitens der russischen Stellen wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, heißt es, ergänzt durch Hunderte Exponate aus den heutigen Berliner Museen.

Während in den Medien häufig der Focus auf die Frage der Rückgabe sog. Beutekunst gelenkt wird, hat ein ausführlicher „Spiegel“-Artikel der Ausgabe v. 12.3.2007 unter dem Titel „Aufbruch der Barbaren“ Eines der Ausstellungsstücke aus dem Puschkin Museum in Moskaudie Nase etwas näher an interessanten Fragen im Zusammenhang mit dieser Ausstellung. Sie betreffen die Herausbildung der modernen europäischen Zivilisation aus den Wirren der Völkerwanderungszeit.

Die Merowinger waren ein herrscherlicher Clan aus den germanischen Stämmen der Franken, die von ihren Wohngebieten rechts des Rheins im 5. Jahrhundert in die römische Provinz Gallien vorgedrungen waren. Im Zuge dieses Vordringens schwangen die Merowinger sich zu Königen eines Frankenreiches auf, das große Teile der späteren Königreiche Frankreich und Deutschland umfaßte. Das karolingische Reich unter Karl dem Großen geht später aus diesem merowingischen Frankenreich hervor. Im Gegensatz zu anderen von erobernden germanischen Völkern im zerfallenden Römerreich gegründeten Reichen, wie z.B. denen der Ost- und der Westgoten und der Vandalen, die schon bald in neuen Umwälzungen untergingen, hatte dieses Frankenreich Bestand und legte den Grund u.a. für die feste Herausbildung eines französischen und eines deutschen Königreichs, zur Bildung einer französischen und einer deutschen Nation ab dem 10. Jahrhundert.

Der politische, aber auch der ökonomische, soziale und moralische Umbruch, den die Völkerwanderung der Germanenstämme im Römerreich und anderswo herbeiführte, bildet ein erstrangiges historisches Thema, das unserem modernen europäischen Selbstverständnis wesentlichen Stoff bietet und nach wie vor umstritten ist. Der “Spiegel” porträtiert die Herrscherdynastie der Merowinger in äußerst negativem Licht, läßt sich aber, um nicht völlig unaufgeklärt zu erscheinen, ein kleines Hintertürchen offen, indem er erwähnt, daß Karl Marx eine andere Sicht der damaligen Umwälzungen hatte, als bloß auf germanische Unbildung, Brutalität und Rauflust zu schauen:

„Karl Marx wiederum hatte folgende Idee: Gegen die brutale Klassenherrschaft des römischen Imperiums mit seinem Sklavensystem habe sich das freie germanische Bauerntum gestellt. Die Cäsaren seien unter die Räder des Fortschritts geraten.“

Das ist eine oberflächliche und auch verfälschende Wiedergabe der Marxschen Ansicht. Zu den tatsächlichen Auffassungen von Marx und Engels, die diese Umwälzungen bereits im Detail studiert hatten, im Rahmen der damaligen Forschungsergebnisse, kann man in einer Schrift von Klaus Sender „Leninismus und Zivilisation – Einführung zur Kritik“ eine Gesamtdarstellung finden. Es heißt hier beispielsweise:

„Die römische Gesellschaft des dritten und vierten Jahrhunderts nach unserer Zeitrechung war nicht imstande, aus den ihr inhärenten Faktoren heraus zu einer Lösung [der sozialen Widersprüche und des Reichszerfalls, W. Gr.] zu kommen.

Das Wesentliche, was Engels jetzt aufzeigt, liegt darin: bei der folgenden Eroberung des Römerreiches durch die Germanen und der durch sie erreichten Neuzeugung eines Systems, das den Ausgebeuteten ganz andere Rechte gibt, das die Stellung der Frau ganz wesentlich erhöht, fließen Wesenselemente der Gentilgesellschaft in die Substanz der neuen Feudalgesellschaft ein, und damit wird die moderne Zivilisation begründet. Dabei ist es wesentlich, daß neue, lebensfähige Nationen in Europa entstehen, die die Rahmen für die kulturelle Entwicklung und den Höhenflug für diese Zivilisation bis in unsere Tage abgeben.“

Eines der wesentlichen Ergebnisse der Studie „Leninismus und Zivilisation“ liegt darin, daß die russischen Bolschewiki einschließlich ihres größten Exponenten W. I. Lenin die Theorie der europäischen Zivilisation, die Marx und Engels ausgehend von den Umwälzungen der Völkerwanderungszeit entwickelt hatten, insbesondere gestützt auch auf die Entwicklung im Frankenreich und seinen Nachfolgern, nicht umfassend zur Kenntnis genommen und verarbeitet haben. Es gibt insbesondere zu Fragen der Demokratie und des Bauerntums bei ihnen deutlich andere Vorstellungen als bei Marx und Engels.

Wenn die archäologischen Bestände zur Merowingerzeit von den sowjetischen und später den russischen Behörden so lange unter Verschluß gehalten worden sind, dann stellt sich auch die Frage, ob dies nur der Problematik zuzurechnen ist, die hierzulande mit dem Schlagwort “Beutekunst” belegt wird. Angesichts der riesigen Verwüstungen, die der Nazikrieg in der Sowjetunion hinterlassen hatte, und der Unmöglichkeit, auch nur für die materiellen Schäden dieses Krieges Kompensationen zu leisten, wirkt es für meine Augen befremdlich, wenn diese Museumsbestände heute als „Beute“ zurückgefordert werden.

Die merkwürdige Tatsache aber, daß erst heute, nach über 60 Jahren, die Bestände wenigstens in Teilen der Öffentlichkeit und hoffentlich auch der internationalen Forschung wieder zugänglich gemacht werden, wirft Fragen ganz anderer Art auf. Lag hier vielleicht auch eine Aversion bestimmter Kreise gegen die weitere historische Forschung zur Aufklärung der zivilisationsbildenden Vorgänge der Merowingerzeit vor? Gegen weitere konkrete archäologische Untersuchungen, die in solchen Streitfragen zur Entwicklung der eigenen Zivilisation und des Selbstverständnisses der Nationen Europas weiterführen könnten? Streitfragen, die auch innerhalb der kommunistischen Bewegung keine geringe Rolle gespielt haben und noch spielen werden?

Interessant ist auch die Darstellung des “Spiegel”, daß wesentliche weitere Bestände, die 1945 aus Berlin in die Sowjetunion verbracht worden waren, noch weiterhin unter Verschluß liegen. So wird über einen „Goldschatz aus Eberswalde“ berichtet, den größten vorgeschichtlichen Goldfund aus Deutschland. Dieser Bestand hat, dem “Spiegel” zufolge, im 9. vorchristlichen Jahrhundert einem germanischen Edeling aus dem Stamme der Semnonen gehört. Eberswalde liegt im heutigen Brandenburg nordöstlich von Berlin.

Verschiedene Berichte heben positiv hervor, daß Wissenschaftler aus Rußland und Deutschland es ungeachtet des politischen Streits um das Eigentum an den Beständen geschafft hätten, eine solche bedeutende Ausstellung zu organisieren. In der Tat ist es vorrangig, daß sie der Öffentlichkeit und der Forschung endlich wieder zugänglich gemacht werden. Hoffentlich geht es in diesem Sinne auch weiter. Wer Gelegenheit hat, die Ausstellung zu sehen oder sich wissenschaftlich mit ihren Beständen zu befassen, kann vielleicht auch aus den hier angerissenen Fragestellungen Anregungen entnehmen.

link zur Ausstellungs- und Katalog-Ankündigung:

 

 

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