Internet Statement 2007-22

 

Eine wichtige Artikelserie wird folgen

                   - die heutige Lage und unsere Geschichte betreffend

Hartmut Dicke,  5.März 2007  

Dem Leser wird nicht entgangen sein, daß in den letzten Wochen nur wenige aktuelle Tagesartikel erschienen. Dies hat seinen Grund in der Vorbereitung eines wichtigen Projektes zu geschichtlichen Fragen unseres Landes.
Es geht um die Ausgangslage des Endes des 1.Weltkrieges, die das ganze 20. Jahrhundert hindurch und darüber hinaus bis heute nicht nur Auswirkungen auf dieses Land hat, sondern die Grundstruktur der internationalen Lage entscheidend mitprägte. Es werden mehrere Artikel zu diesem Thema erscheinen.

Der Vormachtsanspruch der USA, bis heute ein grundlegendes Phänomen in der internationalen Lage, kam bereits damals, im Jahre 1918–19, zustande. Mit dem Ende des 1. Weltkriegs 1918 kam Deutschland, und nicht nur dieses, in eine Lage, die von einem tiefen Eingriff in die innere Struktur dieses Landes durch die beherrschende Siegermacht geprägt ist. Davon waren alle betroffen, die als sogenannte Besiegtenstaaten mit entsprechenden Kontributionen wie jahrzehntelangen Zahlungen, Gebietsabtretungen und außenpolitischer Abhängigkeit beladen wurden. Zum anderen waren selbst die europäischen „Siegermächte“ in eine fast komplette Abhängigkeit von den USA geraten. Die geschaffenen Gegensätze in Europa machten die USA zum Schiedsrichter und zur dominanten Macht des Kapitalismus überhaupt. Dieses Ergebnis des 1. Weltkrieges hatte auch andere, entgegengesetzte Auswirkungen. Die gesamte koloniale Welt, der größte Teil der Erde geriet in den Aufstand und in den Kampf um Unabhängigkeit, eine Lawine, die in den folgenden 40 Jahren niemand aufzuhalten vermochte. In Rußland konnte sich auf Grund dieser Gegensätze die erste proletarische Revolution in einem einzelnen Land halten und durch ihre Existenz den gesamten Kapitalismus herausfordern, weitere fundamentale Revolutionen wie die in China nahmen ihren unaufhaltsamen Lauf.

Die nationale Frage mußte unter den damaligen Bedingungen in vielen Staaten aufgeworfen werden. In Deutschland und Mitteleuropa gab es eine doppelte Revolution, eine Revolution, die elementare bürgerliche Zustände und das Ende der Monarchie herstellte, dann aber, wichtiger als dies, eine Revolution der Arbeiterklasse, die die Frage der politischen Macht der Arbeiterklasse aufwarf. Es war eine Revolution der Arbeiterklasse im unmittelbaren Sinne des Wortes, denn in diesem Land bildete nicht die Bauernschaft die Mehrheit, sondern eine industrielle Arbeiterklasse in einem der entwickelten Länder und mit einem jahrzehntelang gewachsenen hohen Organisationsgrad. Nacheinander gab es den verzweifelten Januaraufstand von 1919, den Versuch der bayrischen Räterepublik 1919, den großen Ruhraufstand von 1920, mit bis zu 200 000 bewaffneten Arbeitern, den mitteldeutschen Aufstand von 1921, die verschiedenen Aufstände von 1923 und weitere. Es fällt hier sofort auf, daß eine gewisse Zersplitterung vorliegt.

In noch nie dagewesener Weise entbrannte der Widerspruch um die Hauptströmungen in der Arbeiterbewegung selbst. Der konservative Sozialdemokratismus, der mit dem Begriff Lassalleanismus [1] in Verbindung zu bringen ist und der sich inzwischen mit dem Imperialismus verbunden hatte, und die moderne selbständige proletarische Bewegung prallten in bewaffneter Form aufeinander. An einigen Punkten gab es auch ein Zusammengehen. Der Hintergrund des Kampfes ist aber nicht nur die Auseinandersetzung mit der eigenen bankrotten Bourgeoisie, sondern die Auseinandersetzung mit dem internationalen Kapital, das zum einen mit dem Kapital im Lande eine enge Verbindung einging, zum anderen versuchte, eine zunehmend bestimmende Stellung zu erlangen. Dieses internationale Kapital hätte es nie zugelassen, daß dieses Land mit seiner Industrie und seinen wissenschaftlichen Potenzen der proletarischen Demokratie „anheimfällt“, daß sich eine solche, auch über das Lernen aus Fehlern, zur Reife entwickelt. Das wäre das Ende der internationalen Bourgeoisie gewesen. Die Revolution in Rußland war für sie schon „schlimm“, dies aber wäre ihr Ende gewesen. Dementsprechend war die Reaktion. Deutschland nahm nunmehr selbst die Stellung eines unterdrückten Landes ein, und das mußte in der politischen Konzeption eine Berücksichtigung finden. Dabei war die Lage ohne Zweifel kompliziert, denn es handelte sich um ein Land mit großen industriellen Kapazitäten, das unter bestimmten Bedingungen schnell wieder ein imperialistisches Land werden konnte.

Der Ausgangspunkt war die Entwicklung 1918, in der sich sehr rasch die neue völlig veränderte Lage herausbildete. Mit dem Ausgang des 1. Weltkrieges bildete sich die doppelte Belastung durch eine verzweifelt um ihre Existenz ringenden Bourgeoisie im Lande und eine internationale Bourgeoisie mit der US-Oligarchie an der Spitze, die von diesem Land Besitz ergriff und es sogar in seiner Existenz bedrohte. Mit dieser neuen Lage wurde die revolutionäre Partei, wie von dieser in einer späteren Phase zu Recht festgestellt wurde, nicht fertig, die Aufstände wurden im wesentlichen von dem Proletariat in den großen Städten und in einigen Industriezentren unterstützt, es gelang nicht, die wirkliche Mehrheit im Lande, die doch von dem Versailler Vertrag grundlegend bedroht war, auf die Seite zu ziehen. Dieser wichtige Vorgang ist eine der Quellen der heutigen Lage, über den aber keineswegs das notwendige Wissen herrscht, im Gegenteil, man muß feststellen, daß das allgemeine Wissen darüber verschwindend gering ist.

Unter den Bedingungen der Knebelung des gesamten Landes durch die Siegermächte mußte diese in das Zentrum der Aufmerksamkeit einer jeden revolutionären Partei rücken. Die wilhelminische Epoche mit ihrer Rückwärtsgewandtheit und ihrem absurden, zum Teil auch gewalttätigen Monarchentum war vorbei, und einer neuen, mindestens ebenso gefährlichen Doppelunterdrückung mußte entgegnet werden.

Wie Lenin in einer späteren Schrift sagte, alle hacken auf Deutschland ein und lassen es nicht hochkommen. Die neuen beherrschenden Mächte betrieben Intrigen, indem sie den Klassenkampf im Land auf ihre Weise ausnutzten, sie waren erwiesenermaßen schon an den Noskeschen Aktionen in der Phase Ende 1918/Anfang 1919 beteiligt, es gibt viele Spuren zum Nazifaschismus, der in den zwanziger Jahren entwickelt wurde und nicht nur die Einflußnahme der im Verfall befindlichen Bourgeoisie zeigte, sondern auch die dahinter steckende internationale Hand. Alles dies macht deutlich, daß die nationale Frage neu gefaßt werden muß.
Sie ist damals – diese Feststellung hat die KPD schon Anfang der dreißiger Jahre getroffen – völlig mangelhaft behandelt worden, was eine der Voraussetzungen war, daß Demagogen sich dieser Frage bemächtigen konnten und sie für sich ausspielen konnten. Der gesamte Nazifaschismus ist ein Produkt des Versailler Vertrages, demagogische Aufschäumung der nationalen Frage auf einer unsinnigen rassistischen Grundlage bei gleichzeitiger radikaler Unterdrückung nach innen. Das war die potenzierte Form der Unterdrückung von 1918 und stand genauso wie diese in Verbindung mit den Mächten, die den Versailler Vertrag geschaffen hatten. Wenn diese faschistische Richtung ab ca. 1937/38 begann, sich von den Auftraggebern zu lösen, um in abenteuerlicher Weise einen Krieg anzusteuern, der dieses Land ins Verderben jagen mußte, so hebt das die Frage nach der Quelle des Regimes nicht auf.

Mit der Niederlage des Nazismus 1945 wurde diese Ordnung von 1918/19 in neuer verschärfter Auflage geschaffen, und die Bundesrepublik in ihrem ganzen Zustand läßt sich nicht von diesen von außen oktroyierten Bedingungen trennen.

Man kann sich die Hysterie, die Verdrehung der Wirklichkeit in der Öffentlichkeit durch die Medien nicht erklären, wenn man den Status dieses Landes nicht behandelt. Die Verdrehung der Wirklichkeit, eine Manipulation derselben in den Medien herrscht in allen Ländern, in Deutschland aber hat sie ein unvorstellbares Ausmaß angenommen.

Die Parteien in diesem Land sind von dieser politischen Grundlage geprägt und auf sie verpflichtet! Man erinnere sich, daß noch vor nicht langer Zeit der vorherige Bundeskanzler Schröder die Anbindung an die USA zu einem Teil der Staatsräson erklärte.
Gleiches findet man auch im Programm der CDU/CSU. Eine große Industrienation definiert sich selbst, oder besser gesagt, mußte sich selbst definieren als Parteigänger der USA, als Bedingung sine qua non für ihre ganze politische Konzeption. Es finden aber jetzt in der Welt große Umwälzungen statt, und es ist absolut an der Zeit, sowohl von den inneren Bedingungen dieses Landes her und seiner bis in die Extreme gesteigerten Widersprüche, als auch von der internationalen Lage her und dem sich abzeichnenden Zusammenbruch der internationalen Hegemonie, diese Fragen in einer korrekten Weise zu verfolgen.
Deshalb wird dies einen wichtigen Bestandteil unserer Darlegungen 2007 bilden. Wir werden wiederholt diese Fragen der Geschichte aufgreifen und die Folgen diskutieren.

Es gibt bereits viele Meter an Büchern, die sich alleine mit der Analyse des 1.Weltkrieges befassen. Immer neue Details werden behandelt und historische Gesamtdarstellungen erarbeitet. Aber es wird darauf ankommen, die Substanz und die Essenz des Ausgangspunktes 1918 zu erfassen. Viele Historiker sind nicht willens oder auch nicht fähig, die Bedeutung der proletarischen Revolution, die sich im Zusammenhang mit der deutschen wie auch mit der sowjetischen Revolution entfaltete, zu erfassen. Späterhin wurde dies durch viele andere Fragen überlagert.

Jede große historische Bewegung macht widersprüchliche Entwicklungen durch. Auch die sowjetische Revolution hatte ihre Fehler und Schwächen, die in späteren Phasen zum Ausdruck kamen. In der Komintern machten sich bereits in den dreißiger Jahren mit der Revolution vollkommen unvereinbare Phänomene bemerkbar, die die Kommunisten später als modernen Revisionismus bezeichneten. Ferner kam es damals schon zu Abweichungen russischen Großmachtgebarens, die vorherige Kritiken daran von Marx und Engels wie auch von Lenin in den Wind schrieb.
So trat der Vorsitzende der Kommunistischen Partei der USA, Earl Browder, unverhohlen mit hegemonistischer Propaganda auf und versuchte, die Komintern im Sinne der USA zu instrumentalisieren. Wir wollen hier im Rahmen dieses Vorwortes nicht die gesamte komplexe Geschichte der kommunistischen Bewegung des 20.Jahrhunderts behandeln und verweisen dazu auf die dazu schon vorhandenen Unterlagen, darunter auch unsere eigenen Ausführungen.
Die Sowjetunion degenerierte endgültig nach den fünfziger Jahren, nach verschiedenen vorhergehenden schwerwiegenden Fehlern, versuchte eine Zeitlang, in den Fußstapfen der USA zu gehen, um dann mit einem eigenen hegemonialen Chauvinismus aufzutreten. Verschiedene gesellschaftliche Bedingungen in der Sowjetunion verhinderten die Weiterentwicklung der Revolution in diesem Land, von dem aus sie im beginnenden 20. Jahrhundert ihre weltweite Ausdehnung begann.
Dann gibt es die chinesische Revolution, die unleugbare Impulse an die Weltgeschichte gab, deren Auswirkungen heute jedermann sehen kann. Auch der Umsturz dieser Revolution, die Entfaltung eines Kapitalismus unter äußerlichen kommunistischen Vorzeichen ab 1979, ändert an der Bedeutung der großen umwälzenden Revolutionen des 20. Jahrhunderts nichts.

Heute stehen weitere Revolutionen und Zusammenbrüche in den neu industrialisierten Gebieten auf der Erde an, dennoch behalten die Fragen der europäischen Geschichte eine grundlegende Wichtigkeit für uns alle. Der Aufbau der neuen kapitalistischen Ökonomie in China oder der anderen „Emerging Economies“ ist zum Teil zum Preis der Verlagerung von Produktion und auch Wissenschaft aus den europäischen Ländern in diese Staaten erreicht worden. Die Internationalisierung der gesamten Produktion und damit die notwendig folgende Internationalisierung des Widerstandes hebt die Fragen der vergangenen europäischen Entwicklung nicht auf. Die Aufgaben der Klärung, warum es hier zu so weitgehender Lahmlegung der Arbeiterbewegung und Widerstandslosigkeit der Gesellschaft kommen konnte, bleiben. Deshalb ist Information, Dokumentation und Diskussion auf dem Gebiet dieser genannten Fragen notwendig.

 

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[1]  Lassalleanismus - Benannt nach Ferdinand Lassalle (1825-1864) der einen deutlichen Hang hatte die Bewegung der Arbeiterklasse mit den Interessen der altüberkommenen Fürstenfamilien vor allem den preußischen Hohenzollern zu verkoppeln.

 

 

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Für die geschichtliche Diskussion zu wenige Kenntnisse?
IS 2007-23 - 6.3.07

 

Dokumente zur Ausgangslage 1918


Revoltierende Matrosen bei einer Demonstration in Wilhelmshaven 6.Nov 1918
Postkarte

 


Neue Einheit 
2007-1

Die Frage der politischen Entwicklung in Deutschland, die Klassenfrage und die nationale Frage
Hartmut Dicke

Die Sozialdemokratie in den ersten Jahren nach dem Sozialistengesetz
Der Kampf um die Agrarfrage – eine wichtige Weichenstellung in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung

Wassili Gerhard

59 Seiten A4,  5,-