Internet Statement 2006-28

 

Das Spaltungsdokument

- Der Brief von Willi Dickhut  vom 9. Februar 1971

13.4.06                       

Wie schon verschiedentlich angekündigt, veröffentlicht unsere Organisation ein zentrales Dokument der früheren Auseinandersetzung um den Aufbau der Kommunistischen Partei in Deutschland [1] aus dem Februar 1971.

Dieses Dokument selbst war schon ein Ergebnis der laufenden, mehrmonatigen Auseinandersetzung, die ihm vorangegangen war. Wir dokumentieren dieses Dokument in vollem Wortlaut auf unserer Webseite, damit diejenigen, die sich mit der Geschichte und den Ursachen der Spaltung in verschiedene Organisationen befassen, sich ein komplettes authentisches Bild machen können.

Schon im Frühjahr 1986 kam es zu einer deutlichen Auseinandersetzung über dieses Dokument. Die MLPD hatte im Herbst 1985 ihr Buch über ihre eigene Geschichte [2] herausgegeben, in dem sie uns, aber auch andere Organisationen und Gruppen, massiv verunglimpft hatte. In das uns betreffende Kapitel wurden längere Teile des hier dokumentierten Briefes hineingenommen, wobei dieser Brief von der MLPD selbst als ein Schlüsseldokument, das viele spätere ausführliche Darlegungen von Willi Dickhut vorbereitete, behandelt wurde.

Wegen dieser Veröffentlichung haben wir bereits im Frühjahr 1986 dazu Stellung genommen. Es erschien ein Doppelheft der Neuen Einheit, das zu diesem Komplex dieses und zahlreiche weitere damit in Zusammenhang stehende Dokumente enthielt, und zwar von beiden Seiten, sowohl der Dickhut-Gruppe und des KAB(ML) als auch des KJVD(Neue Einheit) bzw. der KPD/ML(Neue Einheit), so daß sich der Leser ein vollständiges Bild über die damalige Auseinandersetzung  machen konnte. Alle wichtigen Dokumente von Ende 1970 bis Juni 1971 in diesem Zusammenhang waren darin, und zwar sehr oft auch im Faksimile, enthalten.

Bereits in dieser Dokumentation von 1986 hat unsere Redaktion auch zu verschiedenen Argumentationen dieses Briefes kommentierend Stellung genommen. Drei Abschnitte befaßten sich mit inhaltlichen Fragen dieses Briefes: Die Frage der ökonomischen Krise (Kapitel 2), die Frage der damaligen Einschätzung des Faschismus und die Stalin-Frage (Kapitel 3).  Wenn diese Angelegenheit damals, vor nunmehr 20 Jahren behandelt worden ist, und damals lag sie schon 15 Jahre zurück, warum noch einmal auf die Dinge eingehen? Zum einen machen gelegentliche Ausfälle der MLPD gegen unsere Organisation klar, daß diese Auseinandersetzung nach wie vor am Wirken ist. Man fragt uns gelegentlich auch, woher die Auseinandersetzung rührte.

Zum anderen schaffen die elektronischen Medien eine ganz andere Verbreitungsmöglichkeit. Die MLPD-Organe gingen auf die Erwiderung und die ungekürzte Veröffentlichung dieser wesentlichen Dokumente nie ein. In der Auseinandersetzung von 2004 aber attackierten sie unsere Organisation gerade nach dem Muster, daß man sich um Fakten nicht zu scheren braucht. In diesem Zusammenhang hatten wir auch angekündigt, diesen Brief noch einmal im Net zu veröffentlichen. Dies bringen wir nun zur Durchführung. Andere Themen grundsätzlich-theoretischer Art, wie etwa zur Geschichte der Sowjetunion oder dem Faschismus mußten zwischenzeitlich dieser Veröffentlichung vorgezogen werden. Aber nun kann diese Veröffentlichung mit samt der schon bestehenden inhaltlichen Widerlegung endlich erfolgen. Dies ist nur ein Baustein, aber ein wichtiger, um mit der rechten Dickhutschen Politik abzurechnen.

Die gesamte Ausgabe der NE mit dem Titel „Anmerkungen zum ‚MLPD Geschichtsbuch’-1.Teil“ ist für die Bewertung des damaligen Geschehens noch heute interessant und zu empfehlen. Unmittelbar auf die Inhalte des Briefes beziehen sich 2 Kapitel, die Seiten 12 bis 28, die wir hier einfach ebenfalls als Text zur Beurteilung dazu stellen.

 

I.

Um dem heutigen Leser, für den die Auseinandersetzung in weiter Ferne zurückzuliegen scheint, den Einstieg in diese Fragen zu erleichtern, möchten wir hier noch einmal auf zwei besonders gravierende Kernpunkte eingehen, um zu zeigen, weshalb der KPD/ML(Neue Einheit) im Jahre 1971 keine Möglichkeit gegeben war, den Ansatz einer Verbindung mit der Organisation von Willi Dickhut und dem KAB-ML weiter zu verfolgen.

Was sich in diesem Brief offenbarte, war so abstoßend rechts, so auf Revision der wiedererrungenen Kenntnisse der revolutionären Bewegung der damaligen Jahre gerichtet, daß dies nicht mehr als gemeinsame Basis gesehen werden konnte. Dies war nicht die Ansicht eines einzelnen Genossen, der von der MLPD als Schuldiger der Auseinandersetzung hingestellt wird, als habe er den Konflikt hervorgerufen, sondern alle 4 Gründungsmitglieder der Berliner Ortgruppe der KPD/ML(Neue Einheit) waren sich einig darüber, daß die in diesem Dokument vorhandenen Auffassungen auf das Schärfste zurückzuweisen sind. Die Gegensätze wurden nicht dadurch hervorgerufen, daß ein „Student“ sich in die Partei eingeschlichen hatte und eine Gruppierung dem Dickhut abspenstig gemacht hat, wie es in der Märchengeschichtsschreibung der MLPD lautet, sondern deswegen, weil unmögliche, unakzeptierbare und offen rechte Ansichten das Kernelement der Dickhutschen Vorstellungen waren und sich mit diesem Brief deutlicher als je zuvor offenbart hatten.

Es heißt z.B. in dem Brief:

„Die gewaltige Weltwirtschaftskrise zermalmte die sozialen Reformen, während heute noch keine Ende der sozialen Reformen zu erwarten ist.“

Dies wurde zu einer Zeit geschrieben, in der die ausländischen Arbeiter zu Millionen in die deutsche Produktion geholt wurden und unter deutlich benachteiligten Verhältnissen,  zum Teil in Lagern und Heimen lebend, für das deutsche Kapital arbeiten mußten. Und es war eine Zeit, in der bereits das Kapital umfassend daran arbeitete, in der Zukunft durch Verlagerung der Produktion in die Gebiete der ärmeren Welt sich neue Wege der Ausbeutung zu erschließen und gleichzeitig der sozialen Auseinandersetzung im Lande vorübergehend die Spitze zu nehmen.

Die damalige Epoche, die von diesen ökonomischen Vorgängen wie von den berüchtigten Maßnahmen der Brandt-Regierung zur Isolierung der Linken geprägt war, als Epoche der sozialen Reformen zu bezeichnen, oder gar eine Zeit, bei der das Ende der sozialen Reformen nicht zu erwarten ist, war schon alleine für sich genommen eine einzige rechte Provokation. 

In den Jahren zuvor, etwa seit dem Jahre 1967, hat sich die linke Bewegung in der Bundesrepublik Deutschland zunehmend von den Illusionen über den Sozialdemokratismus und über die sogenannte Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland frei gemacht. Immer mehr wurde die Diktatur des Kapitals gesehen. Immer mehr rückte bei der Jugend ins Bewußtsein, daß in der deutschen Geschichte bereits ein großer Klassenkampf existiert hatte, der durch den Faschismus, und auch durch die Sozialdemokratie und die übrigen bürgerlichen Parteien massiv unterdrückt worden war.

Man erinnerte sich an die Sozialdemokratie als einen der Miturheber des Faschismus, die 1919 die Freikorps mit aus der Taufe gehoben hatte, um die Arbeiterbewegung mit bewaffneter Gewalt zu unterdrücken. Auch wenn es eine ganze Epoche später den Fehler der KPD gab, sich unzureichend auf die Bedrohung des Nazifaschismus seit 1930 zu konzentrieren, kann nicht übersehen werden, daß immer eine Verbindung zwischen der Sozialdemokratie und dem Faschismus in Deutschland über die ganze Weimarer Republik hin existiert hat. Und in der Nachfolge des 2. Weltkriegs kam deutlich hervor, daß die Sozialdemokratie auf das engste mit den Alliierten verbündet ist, und ebenfalls wiederum, wenn es darauf ankam, alle autoritären, reaktionären und faschistoiden Formen unterstützte. Vor wenigen Jahren, etwa 2002, ist bekannt geworden, daß gerade die Sozialdemokratie und sozialdemokratische Innenminister die neofaschistische NPD mittels Subversanten des Verfassungsschutzes massiv unterstützt haben. Aber es bedurfte damals Anfang der siebziger gar nicht solcher heute bekannter Enthüllungen, um zu wissen, daß sie an dem massiven Druck, der gegen die Bevölkerung von 1970 an ausgeübt wurde, massiv beteiligt war. Mit dem Abkommen von Moskau von 1970 und der systematischen Aufziehung der Entspannungspolitik wurde der Druck nach innen verschärft. Die Brandt-Regierung vertrat „Mehr Demokratie wagen“, und tatsächlich hat sie die größte Aufrüstung des innenpolitischen Apparates und des Polizei- und Geheimdienstapparates gegen die eigene Bevölkerung betrieben. Es ist keineswegs nur der berüchtigte „Unvereinbarkeitsbeschluß“ [3], der jeden jungen Menschen im Staatsdienst einer Kontrolle unterzog, ob er nicht einer revolutionären oder nur vermeintlich revolutionären Organisation angehört und vor allem, ob er in ihr praktisch agiert hatte.

Vielmehr muß man in Fragen der damaligen Repression der revolutionären Organisationen sein Augenmerk auf zwei Momente legen:

Erstens auf die öffentlich angeheizte Hysterie, die von den gesamten Medien und der damaligen Regierung betrieben worden ist, die mit dem Begriff „Baader-Meinhof-Gruppe“ oder „RAF“ verbunden ist, d.h. mit dem anarchistischen Terrorismus, der von den Sonderabteilungen der  Polizei, von Verfassungsschutzorganen und Geheimdiensten mit inszeniert worden ist. Diese Kampagne stand natürlich nicht nur für sich, sondern in ihrem Hintergrund wurden alle möglichen Leute und Einzelpersonen bedroht, die nichts mit der „RAF“ oder dem „2.Juni“ zu tun hatten.

Zweitens auf die oben schon erwähnten ökonomischen Umwandlungen, die der revolutionären Linken fürs erste die Arbeit ungemein erschwerten und dann immer stärker den Boden entzogen. Dieser Punkt ist der grundlegendste, er hat die Situation im Land grundlegend verschlechtert.

Die öffentliche Hysterie, aufgezäumt an den „Taten“ der sogenannten „Bedrohung“ durch anarchistische Gruppen, war damals, das heißt im Februar 1971, schon im Kommen. Deutlich also der Versuch, mit den neuen revolutionären Organisationen notfalls mit Gewalt fertig zu werden. Diesen Gegebenheiten hatten sich diese zu stellen. Daß es nicht dazu gekommen ist, hat etwas damit zu tun, daß diese zahlreichen Organisationen trotz ihrer Zersplitterung gegen diesen öffentlichen Druck doch erheblichen Widerstand leisteten und nicht den Fehler begingen, sich in die Anarchokampagnen hineinziehen zu lassen. Vielmehr wurde mehrheitlich der staatliche Betrug durchaus aufgedeckt und die Möglichkeit, die zahlreichen revolutionären Gruppen mit der „RAF“ gleichzusetzen, vermauert. Die Repression und die Verschärfung war allseits spürbar, nichts aber von einer Phase der „sozialen Reformen“.

Dazu ist es kein Widerspruch, wenn in einer solchen Phase verschärfter Differenzierung innerhalb der Arbeiterklasse des Landes und der vermehrten Ausbeutung in der internationalen Ebene Teile der Arbeiterklasse, der sogenannten Stammarbeiterschaft, korrumpiert werden. Ebensowenig ist es ein Widerspruch, wenn beträchtliche Teile des Kleinbürgertums auf Kosten von Staatschulden, mittels einer Vermehrung der Bürokratie auf allen Gebieten und subventionierter wirtschaftlicher Bereiche vermehrt ausgehalten wurden. Dies geschah alles auf Kosten der Entwicklung und zukünftiger Schuldenabzahlung, nur um im Moment die Widersprüche zu übertünchen. Umgekehrt wird dieses Kleinbürgertum eine Stütze des Staates und der in ihm gepflegten sich dahin schleppenden Ökonomie.

Diese Theorie von der Epoche der „sozialen Reformen“ war eine Provokation, man konnte dazu nur sagen: Hinaus damit aus der revolutionären Partei!

 

II.

In einem weiteren sehr bezeichnenden Zitat heißt es:

„Ihr seht die Rolle der SPD nur als Wegbereiter des Faschismus. Das ist nicht richtig. Das trifft nur insoweit zu, als daß die SPD-Regierung nichts unternimmt, den Aufbau faschistischer Organisationen und deren provokatorisches Auftreten zu unterbinden, aber sie wird auch keine ‚Gesetze’ erlassen ‚dem Faschismus den Weg zu ebnen’. Wir haben in den 20er Jahren angenommen, daß die ‚sozialfaschistischen’ Führer der SPD und Gewerkschaften auch in den faschistischen Staatsapparat aufgenommen bzw. eingebaut würden.“

Auch dieses Zitat ist eine Offenbarung für sich. Was Dickhut und andere Leute in der KPD über die SPD angenommen haben, ist eine Sache. Und der Gegensatz zwischen der Nazipartei und der SPD beweist noch nichts über den Charakter der SPD selbst. Das können auch Gegensätze verschiedener bürgerlicher Kräfte und von Varianten des Faschismus sein.

Aber zu behaupten, daß die SPD-Regierung nichts aktiv tun würde, dem Faschismus den Weg zu ebnen, war die nächste Provokation.

Damals in den Jahren 1970/71 hatte die NPD in einigen Landesregierungen noch um die 10 Prozent. Bei der Bundestagswahl erreichte sie 4,3 Prozent, es gab  bis dahin so etwas wie eine größere rechte Grundströmung in der Gesellschaft.  Die Durchorganisierung der Gesellschaft, die Ausschließung und Marginalisierung der gesamten Linken  ist das Werk der Sozialdemokratie mehr als jeder anderen bürgerlichen Partei. Und ein solches Werk ebnet immer faschistoiden Formen den Weg. Man kann die Sozialdemokratie nicht vom Faschismus trennen. Das war damals übrigens Allgemeingut und nicht etwas, das etwa nur wir vertreten haben. Man hat seit langem gesehen, wie im Grunde genommen zwischen Faschismus in seinen verschiedenen Varianten und dem bürgerlichen Staatsapparat gar keine so große Trennungslinie zu ziehen ist. Und das galt für die Sozialdemokratie mindestens genauso wie für die CDU.

Und dann die Formen in der Sowjetunion, die damals immer deutlicher hervortraten. Die nahmen zum Teil auch direkt faschistoide Züge an. Mit welch einem Fanatismus bekämpften sie die geringste Kritik an ihrem Revisionismus und Expansionismus. Wir wissen ja, daß jede Art von Revolte, jede Art von Arbeiteraufstand gegen das revisionistische Regime auch mit bewaffneter Macht von der Sowjetunion in den 60er Jahren platt gemacht worden ist.

Die gesellschaftliche Rolle der Sozialdemokratie bei der Vorbereitung der Ultrareaktion, auch faschistoider Formen, war vollkommen unbestritten und kann nie bestritten werden. Es wäre ja auch eine Reinwaschung der Sozialdemokratie, wollte man diesen Zusammenhang für die 20er Jahre leugnen.

Kurz gesagt: Eine solche Reinwaschung, wie sie hier stattfand, eine solche spießerhafte Verwertung historischer Erfahrungen war absolut unerträglich und ein Salto rückwärts aus der gesamten revolutionären Bewegung.

Unerträglich war auch die Stelle, in der sich Dickhut über die Aussichten der revolutionären Politik der Marxisten-Leninisten und die Bedeutung der DKP ausläßt. Dies gipfelt in der Stellungnahme:

„Dieser Einfluß wird vorerst noch gering sein. Das bedeutet, daß die Massen bei zunehmender Unzufriedenheit über die Politik der SPD, deren Rolle sie erst allmählich durchschauen, sich zunächst der DKP zuwenden, die ihren Revisionismus durch eine scheinrevolutionäre Phraseologie zu verdecken versucht (Gottschall, Landesvorsitzender der DKP von Rheinland-Pfalz auf der vor kurzem in Mainz stattgefundenen Konferenz der DKP: ‚Wir werden unsere revolutionäre Pflicht erfüllen!’).“

Wie schon erwähnt, gibt es bei Willi Dickhut keinerlei Erwähnung der sozialen Umschichtung durch die Hineinführung von Hunderttausenden ausländischer Arbeiter, mit der die Arbeit der revolutionären Organisationen tatsächlich erheblich erschwert wurde. Die Versuche der Bourgeoisie, die Folgen der Ausbeutung auf internationale Faktoren abzulasten, gehen in die ganze Analyse nicht ein.

Dann aber gibt es eine Bewegung unter den Deutschen, die an den marxistischen und leninistischen Traditionen im Land wieder anknüpft und die Signale der chinesischen Kulturrevolution aufgreift. Dieser Bewegung strömen im Jahre 1970 zig-tausende Aktivisten zu. Sie ist gespalten, dies ist nicht ungewöhnlich, weil neue Bewegungen objektiv am Anfang immer scharfe Auseinandersetzungen führen. Aber sie wird auch gespalten, weil der Staat bei diesen Spaltungen nachhilft.

Die Spaltungen ändern an dem Charakter dieser damals starken Bewegung nichts. Und dieser Bewegung sollten wir sagen: Hört zu, erst mal ist mit einer Stärkung der DKP zu rechnen, schminkt Euch Euren revolutionären Anspruch ab, es dauert noch zehn Jahre (so die KAB(ML)-Leute in dem Gespräch am 29. Dezember 1970 wörtlich), bis an die Partei zu denken ist. Das ist für sich genommen schon vollkommen ein Versuch, die Bewegung, die damals relativ günstige Bedingungen hatte, zu liquidieren.

Vor allem ist es auch sachlich falsch. Die DKP war eine Gründung, die von vornherein mit dem Ziele betrieben worden ist, die vorhandene Unruhe, die seit 1968 unübersehbar geworden war, zu bremsen, das Innenministerium wirkte auch damals schon mit. Wir wissen heuten, daß es auch direkte Kontakte zwischen der KPdSU und der Regierung der Großen Koalition und der SPD gab, auf diese Gründung hinzuwirken. Hier wurde eine auch in die außenpolitische Konzeption der Entspannungspolitik passende Partei als Bindeglied zwischen SPD und KPdSU geschaffen. Irgendeine revolutionäre, selbst auch nur scheinrevolutionäre Rolle, war von dieser Partei  nicht zu erwarten. Und in der Tat ist der DKP auch niemals trotz zig-tausender Mitglieder und trotz großer Geldmittel irgendeine bedeutende Rolle zugekommen. Und dies war auch damals bereits absehbar.

Auch hier wieder die Methode bei Willi Dickhut: irgendeine Äußerung eines DKP-Funktionärs wird als angeblicher Beweis genommen, daß diese Partei eine „revolutionäre“ Demagogie entfalten würde. Dagegen stand das Auftreten der DKP in der Gesamtheit, die in Anbiederei an das herrschende System bestand, die in Kürze so weit gehen sollte, daß sie die Mitglieder revolutionärer Organisationen individuell bei dem Staat und  der Gewerkschaftsführung denunzierten und sogar das Verbot von Organisationen forderten. Derartige Äußerungen, die der DKP eine künftige große Rolle zuschoben, konnte man überhaupt nur quittieren mit einem „Raus aus der marxistisch-leninistischen Partei!“. Neben den Faktoren der Unterdrückung dieser Bewegung durch den Staat, der Aufzäumung der „Terrorkampagnen“ mit dem Ziel der öffentlichen Einschüchterung, den ökonomischen Umwandlungen und den Umwandlungen der sozialen Basis in der Arbeiterklasse, ist auch eine solche Politik zu nennen, wie sie der KAB(ML) und Dickhut-Gruppe betrieben, dies war durchaus ein Teil der Zersetzung dieser Bewegung von innen. [4]

Schließlich: was meinte denn Willi Dickhut, weshalb im Jahre 1970 die Bourgeoisie begann, die sog. „Baader-Meinhof“-Kampagne aufzuziehen? Vielleicht deswegen, weil diese neue revolutionäre marxistische Bewegung der ML, die den Revisionismus sehr deutlich kritisierte, die Hand an die Grundlagen der Bundesrepublik legte, indem sie auch deren internationalen Hintergrund angriff, vollkommen unwichtig und gefahrlos war? Oder war es nicht vielmehr so, daß die herrschenden Kreise mit dieser öffentlichen Medienkampagne und einer Reihe spektakulärer Morde, die Stimmung anzuheizen und die neue revolutionäre Bewegung einzuschüchtern trachteten, um den revolutionären Neigungen, die „vor nichts“ haltmachten, beizukommen?

 

III.

Schließlich seien hier die Ausführungen zur Stalinfrage erwähnt. 

„In den theoretischen Arbeiten Stalins liegen ja gerade seine Verdienste, aber in der Praxis beging Stalin Fehler, die im Widerspruch zu seinen theoretischen Arbeiten standen.“ 

Auch dies eine vollkommen unakzeptierbare Feststellung. In der langfristigen Tätigkeit einer solchen politischen Persönlichkeit haben die Fehler in der Praxis auch ihre Entsprechung in der Theorie, das kann gar nicht anders sein. Die damalige Äußerung von Klaus Sender, er habe die Werke von Stalin gelesen und keinen Fehler gefunden, bezog sich zunächst einmal auf die damals bekannten Werke, das heißt auf die 13 Bände der Werke bis Anfang 1934 und einige damals leicht verfügbare Einzelschriften wie die „Ökonomischen Probleme in der UdSSR“. Eine Reihe von Publikationen, die wir heute bei der Beurteilung miteinbeziehen können, war damals nicht verfügbar. Die vorhandenen Werke umfaßten insbesondere auch die Parteitagsberichte, diese waren nicht nur theoretische Abhandlungen, sondern hatten in der KPdSU auch eine Art Leitungsfunktion, hängen also mit der Politik, der Praxis der KPdSU eng zusammen. In der Äußerung lag auch die Aufforderung in der Kritik dieser Leitungsfunktion konkret zu werden, wenn man von Fehlern redet, dann auch die Fehler und zwar die grundlegenden Fehler zu benennen.

In dem Brief von Willi Dickhut wurden erneut Beschuldigungen ausgesprochen, ohne irgend etwas zu belegen. Was die Fragen der Bürokratisierung angeht, so sind es ebenfalls einfach so hingeworfene Punkte, die jeden objektiven Hintergrund, etwa die Zwänge der objektiven Lage, weglassen. Man hätte dies aber natürlich weiter diskutieren können. Unakzeptierbar war die prinzipielle Herangehensweise, wie oben erwähnt, und die Aufforderung mit wesentlichen Teilen der Kritik hinter dem Berg zu halten. Unsere Organisation hat sich auch damals nicht von vornherein geweigert, eine Kritik zu diskutieren, wie das später behauptet worden ist.

Man muß auch berücksichtigen, daß bei dieser Diskussion ganz unterschiedliche Leute zusammensaßen. Willi Dickhut war damals 66 Jahre alt und hatte 40 Jahre Parteiarbeit und Auseinandersetzung hinter sich. Klaus Sender, damals 23 Jahre alt, hatte gerade vor zwei Jahren das erste Mal ein marxistisches Buch in den Händen gehalten, allerdings ein Jahr heftigster Auseinandersetzungen um die Partei hinter sich, bei der viele grundlegende Fragen diskutiert worden waren. Andere Genossen waren erst 20 Jahre und jünger. Und trotzdem verteidigten hier die Jungen die marxistischen Prinzipien und die grundlegenden Erfahrungen gegenüber Dickhut.

Unsere Organisation und namentlich Klaus Sender haben ab 1972 angefangen, Stalin auch sehr grundsätzlich zu kritisieren, infolgedessen haben wir natürlich auch nicht mehr die theoretischen Leistungen, die eben auch fehlerhaft sind, als umfassend richtig hingestellt. Diese Kritik war auch Folge sehr konkreter Erfahrungen, die wir im Jahre 1972 gemacht hatten, als wir sahen, daß die Kritik von Lenin in vielen Dingen erheblich tiefer geht und grundlegender die Sache erfaßt. Für die weiteren Punkte verweisen wir hier auf den Text der Zurückweisung von 1986, die in dieser Dokumentation beigefügt ist. Schließlich hat Klaus Sender, allerdings einiges später, die Kritik durch eine weitergehende Beurteilung der Hintergründe der sowjetischen Revolution und der Lehren von Lenin auf eine neue, erweiterte Grundlage gestellt. Dadurch wird auch der historische Kontext von Stalin mit erarbeitet. (Siehe Klaus Sender, „Leninismus und Zivilisation“ (1987-89) u.a.) Mit der Praxis erweitert sich auch das Feld der konkreten Erfahrung und der Kritik der historischen Vorgänge, das ist ein ganz natürlicher Vorgang. Im Laufe der Zeit ist dies durch immer weitere Beiträge ergänzt worden. [5]

Weitere Argumente und Punkte mag man aus dem hier wiedergegebenen Beitrag aus der NEUE EINHEIT Nr.1/2-1986 entnehmen.

Es sei hier noch erwähnt, daß die KPD/ML(Neue Einheit) das ganze Jahr 1971 über versucht hat, diesen Brief zu veröffentlichen. Die gesamte Parteigruppe war sich einig darüber, daß dieser Brief möglichst detailliert zurückgewiesen werden sollte. Da dieser sehr viele verschiedene Themen berührt, sollte sich das als ein sehr umfangreiches Vorhaben erweisen. Insbesondere Klaus Sender arbeitete daran, etwa die internationale Finanzkrise, die im Mai 1971 offen ausbrach, zu behandeln, was schon alleine für sich genommen ein Riesenthema war.

 Es wurde in dem Sommer 1971 zunehmend wichtig, daß wir mit der öffentlichen Entwicklung mithalten mußten. Es wurde die Zeitung „Revolutionäre Stimme“ geschaffen, die die neuesten, hochbrisanten aktuellen Widersprüche, etwa der neuen Entwicklung der Außenpolitik Chinas, behandelte und sich der Verschärfung des inneren Kampfes, des ökonomischen Kampfes wie auch der verschärften innenpolitischen Situation  widmen mußte. In vieler Hinsicht hatte die Praxis die Positionen, die Willi Dickhut in dem Brief vertreten hatte, bereits jetzt ins Abseits gestellt. Dennoch sollte im November 1971 dieses Dokument mit kurzem Vorwort erscheinen. Leider ist dieses erneut wegen aktueller Angelegenheiten nicht erfolgt. Die Veröffentlichung hätte damals möglicherweise das Ende der Dickhutschen Gruppe bedeutet, sie jedenfalls gehörig desavouiert. In der damaligen Lage wäre weitaus mehr als zu späterer Zeit klar geworden, wie diese Gruppe auf die Liquidation bestehender revolutionärer Ansätze hinarbeitet.  Gegen Ende des Jahres 71 beginnt sich die Situation für die KPD/ML(Neue Einheit) schon erheblich selbst zu verschärfen, die im Jahre 1972 mit einer faktischen Illegalisierung dieser Organisation endet. Nennenswert ist hierbei, daß im Februar 1972, als sich die Repression zu verschärfen begann, erneut ein Angriff des KAB/ML erfolgte, indem er versuchte, die Studentenorganisation ADGS [6] gegen uns aufzubringen.

Die Thesen dieses Briefes sind also für sich sehr aussagekräftig. Er berührt aber nicht alle Punkte, die damals in der Auseinandersetzung eine Rolle spielten. Zu erwähnen wäre noch die von den KAB-ML Leuten in anderen Dokumenten aus dieser Zeit vertretene Ansicht, es gebe in der Bundesrepublik keine Arbeiteraristokratie oder allenfalls in Ansätzen. Eine solche These leugnet die imperialistische Einflußnahme auf die Arbeiterklasse und die Anpassung oder gar Korrumpierung eines beträchtlichen Teils derselben, die in Wirklichkeit in allen reichen kapitalistischen Ländern ein Charakteristikum war und ist. In solch einer Einschätzung liegt auch die Leugnung der imperialistischen Einflußnahme auf die gesamte Gewerkschaftsbewegung, die nicht nur sich im ganzen 20. Jahrhundert durchzieht, sondern durch die besondere Kontrolle der USA und Großbritanniens bei dem Wiederaufbau der Gewerkschaften nach dem Faschismus eine weitere qualitative Steigerung enthielt. Von daher erklärt sich auch die besonders infame Hetze von Dickhut und seinen Gefolgsleuten speziell gegen Schriften, die sich mit dieser Rolle der Gewerkschaftsführung befassen, etwa gegen die Analyse, daß  bei dem Anfang der siebziger Jahre beträchtlichen Großkapital in gewerkschaftlicher Hand es sich um Formen des Sozialimperialismus handelt.

Redaktion Neue Einheit

 



[1] Man beachte hierbei, daß der Aufbau sich zunächst auf Westdeutschland und auf Berlin (West) beschränkte. Grundsätzlich kritisierte die KPD/ML auch den Revisionismus in der SED, die von einer Unterstützung  der KPdSU nicht abließ und dies selbst als die DDR von der sowjetischen Außenpolitik zunehmend übergangen wurde. Grundsätzlich wurde also der Aufbau der revolutionären Kommunistischen Partei für ganz Deutschland ins Auge gefaßt. (siehe hierzu auch Gründungserklärung der KPD/ML und andere Dokumente aus der Zeit 1967-1970)

[2] Es gehört zu den Besonderheiten dieser Partei, daß sie nachdem sie trotz eines vorhandenen umfangreichen organisatorischen Apparates über keinerlei nennenswerte Erfolge im Land verfügte und selbst eine marginalisierte Partei blieb, bereits ihre eigene „Geschichte“ herausgab, die zudem voll von Entstellungen war.

[3] Sog Radikalenerlaß vom 28. Jan.1972

[4] Der KABD (Kommunistischer Arbeiterbund Deutschlands), so hieß der Zusammenschluß aus KAB(ML) und KPD/ML(Revolutionärer Weg) seit 1972, hat übrigens tatsächlich „plangemäß“ seine Partei ungefähr 10 Jahre danach gegründet. Nur gab es jetzt kein revolutionäres China mehr, die objektiven Bedingungen der Partei hatten sich radikal verschlechtert. Der Abbau der Produktion in der Bundesrepublik war seit 8 Jahren im vollen Gange, und die Öko- und Alternativbewegung, vor allem die sogenannte Anti-Atom-Bewegung standen in ihrer „Blüte“. Es überrascht nicht, daß diese Partei, die die neue kommunistische Bewegung in Gänze als „kleinbürgerliche ML-Bewegung“ kritisierte, jetzt voll in diese erzkleinbürgerlichen Bewegungen eingestiegen war und versuchte, auf dieser Welle zu reiten. Dagegen waren wir die einzigen, die die Grundlagen der Kommunistischen Partei auch gegen diese Welle kleinbürgerlich-alternativer Bewegungen dauerhaft verteidigten. Diese Gründung von 1982 war politisch ähnlich unrevolutionär wie es seinerzeit die der DKP war, auch wenn in diesem Fall der stärkere revolutionäre Habitus im Unterschied zur völlig zahnlosen DKP vorhanden war. Aber das besagt bekanntlich nicht viel.

[6] ADGS „Allgemeine Demokratische und Gewerkschaftliche Studentenorganisation“, die maßgeblich von Mitgliedern der Kommunistischen Hochschulorganisation (NE) mitinitiiert worden war.

 

 

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Dokumentiert:
Der Brief von Willi Dickhut an die KPD/ML (NEUE EINHEIT)  vom 9. Februar 1971


Auszug aus aus der Neuen Einheit 1986, Nr1/2: Zurückweisung der Anschauungen Willi Dickhuts nach der Veröffentlichung von längeren Auszügen des Briefes vom 9. Februar 1971