Internet Statement 2008-16
Proletarische Revolution und nationale Frage Hartmut Dicke 22. März 2008 I.1
Im Jahre 1918 war eine neue Lage entstanden. Zug um Zug brach die deutsche Militärmaschinerie nach vier Jahren Krieg zusammen, wurde die Lage der Mittelmächte, zu denen Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien und die Türkei gehörten, politisch und militärisch aufgebrochen. Sowohl im Westen wie im Südwesten wurde die militärische Lage immer unhaltbarer und die Bündnispartner, darunter vor allem Österreich-Ungarn, strebten faktisch ohne Absprache einen Separatfrieden an. Das Land befand sich in einer völlig veränderten Situation, die im Laufe der letzten zwei Jahre herangereift war und eine Revolution unvermeidlich machten. Alle Versprechungen der Vergangenheit, alle Lügen kehrten sich nun gegen das herrschende Regime selbst.
Schon seit dem Sommer des Jahres 1917 war es zu heftigen Massenprotesten in der Marine gekommen, die brutal unterdrückt worden waren. Der Sieg der Oktoberrevolution in Rußland gab den revolutionären Tendenzen weiteren Auftrieb, die auch im Inneren des Landes durch die katastrophale Lage und durch die Selbstenthüllung des großsprecherischen wilhelminischen Regimes genährt wurden. Jeden Tag folgten weitere Tausende Menschen dem revolutionären Lager. Hatte man in den ersten Monaten des Krieges den Massen erzählt, man führe einen Krieg gegen die Umklammerung und existentielle Bedrohungen, so kamen die maßgeblichen Unternehmerverbände und Agrarierorganisationen schon im Mai 1915 mit der Wahrheit heraus und erklärten den offenen Eroberungskrieg. Aus diplomatischen Gründen hielt sich die Regierung selbst noch zurück, aber den politischen Kräften der Annexionisten wurde freier Lauf gelassen. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Massen bereits die Schrecken und Greuel dieses imperialistischen Krieges kennengelernt, die auf gezielter Täuschung und Schauspielerei beruhende „Begeisterung“ von unerfahrenen Massen war verflogen. Seitdem war der Widerstand mit jedem Jahr gewachsen.
In Deutschland stand im November des Jahres 1918 die proletarische Revolution auf der Tagesordnung. Das Land, das die längste und größte Tradition in der Arbeiterbewegung aufwies, war längst aus dem nationalen Taumel erwacht. Die revolutionären und nicht reformistischen Zielsetzungen und Prinzipien der Arbeiterbewegung, die in den Jahrzehnten zuvor herangereift war, sollten nun unter den ganz anderen Bedingungen eines von der Kriegsniederlage gekennzeichneten Landes umgesetzt werden. Die russische Revolution von 1917 und ihr Bestand gegen alle Unbilden, gegen eine Reihe militärischer Interventionen wie auch zahlreiche Versuche, den Sowjetstaat politisch zu untergraben, gab das Startzeichen, auch in Deutschland eine proletarische Revolution zu verwirklichen.
Somit war die starke proletarische Bewegung, die zur Errichtung von revolutionären Diktaturen der Arbeiterklasse, zu Räterepubliken in mehreren Teilen Deutschlands führte, das Resultat der eigenen Geschichte, wie auch der internationalen Zusammenhänge.
I.2
Mit dem Versuch der Siegermächte, Englands, Frankreichs und der USA, Deutschland selbst unter die Kontrolle zu bringen und möglicherweise sogar zu zerschlagen, sah man sich nun konfrontiert. Am 8.Januar 1918 war von dem US-Präsidenten Wilson eine schönklingende, vortäuschende Rede gehalten worden, in der er einen fairen Frieden versprach. Dies war bereits die Reaktion auf die wachsenden revolutionären Neigungen in Deutschland wie in vielen anderen Ländern, wie auch auf die Oktoberrevolution in Rußland. Plötzlich sah man sich gezwungen, in schönen Worten Friedensangebote zu machen. Und in Deutschland wuchsen nach einigen Monaten die Neigungen in der herrschenden Klasse, die doch 3 Jahre lang den Krieg forciert hatte, diese sogenannten Friedensbedingungen, die in ganz unverbindlicher Form vorgebracht worden waren, anzunehmen.
Noch im Frühjahr 1918 hatte die deutsche Militärmaschinerie der Sowjetrepublik, die sich unter vielfältigen Bedrohungen befand, einen Diktatfrieden aufgedrückt, der diesen neuen und jungen Staat hohen Kontributionen unterwarf und der deutschen Armee große Gebietsvorteile brachte. Das Hauptziel der deutschen Militärführung war allerdings, im Westen eine Entscheidungsschlacht zu ihren Gunsten unter diesen Bedingungen zu erreichen. Dies ging fehl, weil inzwischen die USA als neue, unverbrauchte und technologisch gut ausgerüstete Macht in den Krieg eintrat. Und nicht nur deshalb. Die deutsche Bevölkerung war erschöpft von diesem Krieg und hatte in der Mehrheit von dem imperialistischen Wahn die Nase voll.
Die Lage, die aber im Herbst 1918 vorgefunden wurde, war die, daß die Siegermächte unverhohlen auf eine völlige Abhängigkeit Deutschlands, wenn nicht seine Zerschlagung, hinarbeiteten. Dies wird bereits nicht erst in den Friedensbedingungen von Versailles vom Mai 1919 deutlich, sondern zeichnet sich bereits in dem Waffenstillstandsabkommen von Compiègne vom 11. November 1918 ab. Dieses „Waffenstillstandsabkommen“ regelt nicht nur den Rückzug deutscher Truppen, um der gegnerischen Seite jede nur erdenkliche Sicherheit gegen ein mögliches Fortführen des Kriegs von deutscher Seite zu geben, sondern läuft – schon damals – auf eine faktische politische völlige Unterordnung unter die Mächte der Alliierten hinaus.[1] Nicht nur, daß Deutschland faktisch entwaffnet wird unter diesen Bedingungen von Compiègne, sondern es sind gerade einige sehr bezeichnende Paragraphen, die zeigen, daß in das deutsche politische Leben selbst unmittelbar eingegriffen werden soll. So wird bezeichnenderweise in diesem sog. Waffenstillstandsabkommen bereits gefordert, daß alle zivilen Schiffe, die Deutschland als Handelsmacht weltweit unterhielt und die auf offener See aufgegriffen werden, den Alliierten ausgeliefert werden müssen. Ein weiterer sehr bezeichnender Punkt ist der, daß die Deutschen nicht mehr über ihre eigene östliche Kriegsfront entscheiden durften. Es heißt darin:
„XII.Alle deutschen Truppen, welche sich augenblicklich auf den vor dem Kriege zu Rußland gehörigen Gebieten befinden, müssen ebenfalls hinter die wie oben angegebenen deutschen Grenzen zurückgehen, sobald die Alliierten, unter Berücksichtigung der inneren Lage dieser Gebiete, den Augenblick für gekommen erachten.“
Dieser Paragraph entsprach zugleich dem Wunsch eines Teils der deutschen Führung, die auf einen Fortbestand der östlichen Truppen hofften, um selbst eine Ausgangsbasis zu behalten. In diesem Paragraph reklamierten die westlichen Staaten aber das Kontrollrecht über die Truppen in den östlichen besetzten Gebieten.[2] Das waren diejenigen Alliierten, die faktisch Krieg gegen das sowjetische Rußland führten. Ebenso heißt es:
„XVI. Die Alliierten sollen freien Zugang zu den von den Deutschen an ihren Ostgrenzen geräumten Gebieten haben, sowohl über Danzig als auch über die Weichsel, um die Bevölkerungen dieser Gebiete verpflegen zu können und zum Zweck der Aufrechterhaltung der Ordnung.“
Die Alliierten einschließlich der USA verfolgten zielstrebig ein Konzept, die Staatenwelt in der Zone zwischen Rußland und Deutschland in ihrem Sinne umzugestalten.
Insgesamt kann man den Waffenstillstand so kennzeichnen, daß Deutschland alle möglichen Verpflichtungen auferlegt werden, umgekehrt die Alliierten aber keinerlei gegenteilige Verpflichtungen bekommen. Selbst die westlichen Grenzterritorien werden praktisch der militärischen Kontrolle der westlichen Mächte unterstellt.
Dieses Konzept war natürlich kein Zufall, und es sprach
Bände über das, was die Absichten für das Weitere waren. Die proletarische
Revolution befand sich also in einer Lage, in der sie zugleich nicht
nur die eigene herrschende Klasse, die in Folge des Krieges und der
Niederlage jetzt erst recht völlig marode und verfallen war, zu stürzen
hatte, sondern zugleich den neuen zugreifenden Mächten, die in Deutschland
die Diktatur eröffneten, den Kampf ansagen mußte. Diese Doppellage ist
das Entscheidende der Situation von Ende 1918. Die nationale Frage spielte
also von Anfang an eine sehr deutliche Rolle, und es wurde von vielen
Revolutionären nicht im vollen Umfang gesehen. Es muß allerdings dazugesagt
werden, daß die Absichten der Alliierten und insbesondere dann der Friedensvertrag
von Versailles in seiner Konzeption vom Mai 1919 auf das schärfste von
den proletarischen Revolutionären verurteilt wurde. Diese Mächte verfolgten die Zielsetzung, Deutschland als Vorhutbasis gegenüber dem neuen Sowjetrußland auszubauen, und weiter auch, Deutschland als „Störenfried“, als potentielle Gefahrenquelle für die altetablierten Mächte und den Kapitalismus insgesamt zu zerreißen und zu zerstören. Diese grundsätzliche Lage machte auch für die Revolutionäre von Anfang an die Frage, wie man mit dieser nationalen Unterdrückung umgeht, zu einer Kernfrage ihrer ganzen Existenz. Damit muß man sich befassen. Als dann die Pariser Vorortverträge kamen, darunter der von Versailles für Deutschland, verbunden mit Forderungen, die Deutschland über Jahrzehnte hinweg zu einem Tributzahler machten, und zwar mit Tributen, die aus den Volksmassen herausgeholt werden sollten, war endlich klar, was es mit diesem „demokratischen“ Krieg auf sich gehabt hatte.
II. Zu dem Hintergrund des 1.Weltkrieges
Es ist bekannt und gut analysiert, daß eine wesentliche Komponente zum Ausbruch des Krieges die Frage der Neuverteilung von Kolonien und der Herrschaft auf der See als dem damals entscheidenden Handelsweg war. Es spielt aber sehr wohl grundlegend in allen beteiligten großen Mächten der Widerspruch zwischen der Arbeiterklasse und der Bourgeoisie in den jeweiligen Ländern eine Rolle.
In den großen Industriezentren war der Widerspruch zwischen einer gesellschaftlichen Produktion und der Aneignung durch eine Handvoll großer Kapitalisten manifest geworden. Seit 50 Jahren hatte die Arbeiterklasse rasch zugenommen und hatte politisch ein immer größeres Selbstbewußtsein gewonnen. Was im kommunistischen Manifest noch mehr theoretisch dargelegt war, als Projektion in die Zukunft, war hier Wirklichkeit geworden. Es ist deshalb kein Wunder, daß die rote Sozialdemokratie, die sich allerdings in zwei recht unterschiedliche Pole aufspaltete, immer mehr an Gewicht gewann. Alle Bourgeoisien waren gewissermaßen versessen darauf, ihre eigene Arbeiterklasse politisch zu vernichten, durch das Blutbad eines Krieges zu züchtigen, und möglichst an der Spitze des Imperialismus stehend, die Probleme auf andere Länder abzulasten, d.h. einen wahnwitzigen Krieg zu führen, um der sozialen Probleme im Inneren Herr zu werden. Das gilt für Frankreich genauso wie für Deutschland, wie es für England gilt und für viele andere Staaten, und erst recht auch für die USA. Jede dieser Mächte versuchte, den eigenen inneren Widerspruch durch einen Raubkrieg nach außen zu stabilisieren, wenn man so will einzufrieren und zu beherrschen. In Deutschland gab es neben der Bourgeoisie noch die Schicht der altüberkommenen herrschenden Klasse, die altüberkommenen Aristokraten-, Adligen und Großgrundbesitzerkreise, die sich aufgrund der besonderen geschichtlichen Bedingungen in diesem Lande so lange an der politischen Macht hatten halten können. Dies berührt einige besondere Bedingungen der deutschen Geschichte.
II.1 Die deutsche Geschichte im europäischen Zusammenhang
Von 1648 an, dem Ende des Dreißigjährigen Krieges, bis 1848 war das Land als zusammenhängender Staat völlig gelähmt. Zwei Großmächte - verhältnismäßige Großmächte im europäischen Vergleich - bildeten sich innerhalb Deutschlands heraus, die beide über beträchtliche Territorien außerhalb des Landes verfügten und entsprechend orientiert waren. Das Land war innerlich gelähmt und in seiner bürgerlichen Entwicklung behindert. Insbesondere 1815, nach den Revolutionskriegen und dem Zusammenbruch des napoleonischen Reiches, wurden das „Ancien Regime“ und die deutsche Spaltung restauriert, und der größere Teil des Landes bewußt als Manövriermasse für äußere Interventionen definiert. Der oberste Wachtmeister dieser „Ordnung“ war der österreichische Kanzler Metternich. Er unterdrückte im Auftrag der eigenen wie der internationalen Reaktion jede demokratische Regung und warnte vor den „äußerst gefährlichen“ Ideen der deutschen Einheit. Die Entwicklung der Industrie und der Eisenbahnen aber weckten das Land und ließen diesen reaktionären Machtanspruch endgültig mit der Wirklichkeit kollidieren. 1848 kam es infolgedessen nach Anstoß aus Frankreich zu einer Revolution. In dieser kam auch die neue kommunistische Bewegung erstmals zur Geltung. Aus dem Boden der Vorbereitung dieser Revolution gingen die revolutionären, auf wissenschaftliche Durchleuchtung der Geschichte basierenden Lehren von Marx und Engels hervor. Die Revolution scheiterte aus zwei Gründen. Erstens waren die Probleme faktisch nicht lösbar, da die Lage durch die Gegensätzlichkeit von zwei Großmächten, die beide kein Interesse an einer Führung der ganzen Sache bekundeten, äußerst verwickelt war. Nur ein radikaler Rundumschlag, eine Vertreibung der völlig überholten Potentaten aus feudaler Zeit, hätte weitergeholfen. Dazu war die Mehrheit der Deutschen aber nicht fähig, zu lange hatte die Erziehung zu Kriecherei, zur Negierung jeder größeren, in die Zukunft gerichteten Politik, gedauert.[3] Zum zweiten mußte sich diese Revolution von Anfang an dem Druck der internationalen Reaktion stellen, die seit langem die revolutionäre Erhebung der Deutschen mit allen Mitteln im Keim erstickte.
Seit dieser Zeit ist vieles passiert, aber eines ist geblieben, revolutionäre Anstrengungen in diesem Land müssen sich nicht nur mit der eigenen Reaktion und Herrschaft und der internationalen Intervention befassen, sondern auch mit dem Naturell der Menschen, das sich in den Jahrhunderten herausgebildet hat.
Die Revolution scheiterte, aber die Umwälzung war nicht mehr aufzuhalten. Das Streben nach deutscher Einheit war nicht mehr aufzuhalten, das war allen klar. Sie bedrohte die Fürstenhäuser direkt, das war auch den Starrsinnigsten unter ihnen klar. Und selbst der oberste internationale Wächter, der russische Zar, der den Deutschen bei der geringsten Regung in Richtung Einheit mit Krieg gedroht hatte, mußte diese Tatsache akzeptieren. Die Frage war, wie und unter welchem sozialen Vorzeichen sie durchgesetzt werden würde.
Die Monarchie zu retten war das Motiv, mit dem der preußische Politiker Bismarck sich in der Folgezeit die Ideen des deutschen Zusammenschlusses zu eigen machte. Man mußte sich, ohne die „Monarchie“ aufzugeben, an die neuen Tendenzen anpassen. Preußen, in dem sich selbst eine rasche Industrialisierung vollzog, ging nun mit der deutschen Einheitsbestrebung in die Führung. Nicht lange zuvor noch hatte das preußische Königshaus die Revolutionäre unterdrückt und selbst den bürgerlichen Liberalismus mit Schimpfworten belegt. Nun kam es zu einem für Deutschland charakteristischen Nebeneinander von sich rasch entwickelnder Bourgeoisie und einer Herrschaft der junkerlichen und monarchistisch-aristokratischen Macht. Österreich mußte raus, nur so konnte ein Staat nach der Vorstellung Bismarcks entstehen, außerdem garantierte dies die Dominanz des protestantischen Elements, was untergründig bei dieser Sorte von Reaktion immer noch eine Rolle spielte. Nachdem man erstmal den Monarchen Friedrich Wilhelm IV. gegen seinen Bruder ausgetauscht hatte, weil er vollkommen degenerierte und zum Gespött des ganzen Landes geworden war, wurde 1862 Bismarck preußischer Ministerpräsident und begann mit der Einvernahme Deutschlands durch Preußen. 1863 verpflichtet er den Zaren auf sich, als er ihm bei der Unterdrückung des großen polnischen Aufstandes hilft. Die Methode der „Stänkerei“, das heißt der Anstiftung von Zwistigkeiten, um dann den Kontrahenten möglichst zu überfallen, zeichnet sich hier ab. Bevor es zur Einigung kommt versucht der dänische König, „seinen“ Staat aus dem Deutschen Bund herauszulösen und für sich zu annektieren. Das ruft unter den Deutschen eine Welle des Widerstandes hervor, Preußen und Österreich gehen zusammen gegen Dänemark in einem kurzen erfolgreichen Krieg vor. Dänemark muß Schleswig-Holstein herausgeben, dabei schiebt aber Bismarck gleich mal die Grenze auch bis in überwiegend dänisches Gebiet vor. Aus der Zusammenarbeit mit Österreich im Krieg gegen Dänemark ließ sich bestens ein neuer Konflikt konstruieren und provozieren. Jetzt kommt es zum Kriege zwischen zwei Lagern in Deutschland, mit Österreich und Preußen an der Spitze. Preußen, das erheblich kleiner ist, kann dennoch auf Grund seiner verhältnismäßig modernen Militärtechnik und indem es die Unentschlossenheit des altmodischen Kaiserreiches ausnutzt auf raschen Sieg setzen. Die preußische Dominanz in Deutschland ist verwirklicht. Der Staat Hannover, der auf der falschen Seite gegen Preußen stand, wird einkassiert und damit Preußen ein zusammenhängendes Gebiet gegeben, welches nunmehr den allergrößten Teil Norddeutschlands ausmacht. Bismarck schließt sehr schnell einen versöhnlichen Frieden mit Österreich, das infolge des Krieges und der Niederlage innerlich erschüttert ist, und widmet sich mit seiner „Methode“ nun dem nächsten Ziel. In Frankreich regiert mit Napoleon III. ein Militärusurpator, der sich die Kaiserkrone aufs Haupt gesetzt hat, in dessen Reich es kriselt und der dringend außenpolitische Erfolge braucht. Er möchte sich gerne Stücke vom linken Rheinufer holen, als Kompensation für sein „wohlwollendes“ politisches Verhalten bei dem bisherigen Zwist in Deutschland. Bismarck versteht es, ihn erst zu locken und dann zu prellen, und reizt zum Kriege, der endgültig Preußen an die Spitze führt. Das Verhalten Napoleons III., sich wie in der Zeit vor 200 Jahren deutsche Gebiete mittels Erpressung hereinzuholen, mußte förmlich eine nationale Welle in Deutschland hervorrufen. Die verbliebenen süddeutschen Staaten, Baden, Württemberg, Hohenzollern-Sigmaringen und sogar Bayern, rücken an Preußen heran, es kommt in Versailles, nach der Entscheidung im Krieg auf dem Boden Frankreichs, zu dem Einigungsakt unter monarchistischer Führung. Abgesichert hat sich Bismarck bei seinem gesamten Vorgehen mit dem Zaren, aber auch mit England, das über die Monarchie eng mit Preußen verbunden ist. Das ganze Vorgehen ist darauf abgestimmt, andere Kräfte in Deutschland sich gar nicht erst konsolidieren zu lassen und das Land vor vollendete Tatsachen zu stellen. Karl Marx und Friedrich Engels haben diesen ganzen Vorgang ausführlichst beschrieben und kommentiert.[4]
So sehr es Bismarck aber verstand, den günstigen Moment für sich zu nutzen, so sehr hatte diese Usurpation der Macht in Deutschland, auch einen Haken. Dieser Staat saß von Anfang an in Europa zwischen allen Stühlen, war abhängig von den Mächten, die ihn unterstützt hatten, Rußland und England, dazu hatte man noch Elsaß-Lothringen einkassiert, was auf lange Zeit den Konflikt mit Frankreich verursachen mußte. Militärische Überlegungen, wie man einen Zweifrontenkrieg bewältigen könne, gab es faktisch ab 1871. Nicht umsonst versteht es auch Engels schon Anfang der 90er Jahre, also vor dem Zeitalter des Imperialismus, das fürchterliche Szenario eines verheerenden Krieges in Kontinentaleuropa zu beschreiben. Nicht umsonst versuchte Bismarck in der Zeit von 1871 bis 1890 durch eine kunstvolle Diplomatie diesen Staat abzusichern, denn ihm war klar, welche Gefahren in der ganzen Konstruktion lauerten.[5] Obwohl dieser Staat durch die Einigung und durch die Industrialisierung neue große Potenzen freisetzte und nicht zuletzt auch der Arbeiterbewegung neue Chancen bot, darf niemals der Doppelcharakter vergessen werden, daß auf der anderen Seite künstlich eine aristokratische Macht konserviert und sogar wiederbelebt wurde, die einen Hang zu Abenteuerlichkeit, Selbstüberschätzung und sogar Selbstvernichtung in sich trug. Die proletarische Partei in diesem Staat durfte den Charakter dieser Einigung niemals vergessen, mußte sehen, daß die Lösung der nationalen Einheit unter diesem Vorzeichen eine Entstellung war, und daß die Frage der Demokratie und die Herstellung normaler bürgerlicher Verhältnisse, das heißt einer bürgerlichen Republik, nicht aus der Programmatik gestrichen werden durften (Bedeutung des Minimalprogramms). Um so wesentlicher ist es, daß eine Komponente dieser Partei mit eben genau diesem Staat, mit eben genau diesem Bismarckianertum kokettierte und die Grundlage dieses Staates als ihre eigene empfand.
Dieser kurze Rückblick auf die Entstehungsgeschichte dieses Staates war notwendig, um einige Wesenselemente auch in späterer Zeit zu erfassen. In dem folgenden Zeitalter des Imperialismus kommen alle genannten Widersprüche in einen viel größeren weltweiten Kontext. Das Zeitalter beginnt etwa mit dem Jahre 1896 im umfassenden Sinne, vorher entwickelten sich die Elemente einer solchen Gesellschaft, nun war sie ausgereift. Wir haben uns allerdings mit der Frage zu befassen, warum sich der Widerspruch auf Deutschland und seine wenigen Bundesgenossen so fokussierte. Weder war Deutschland die größte Macht, das waren mittlerweile schon die USA, noch war es bei weitem nicht die größte Kolonialmacht, hier war Deutschland eher zweitrangig, noch war es territorial die größte Macht, noch hatte es die reaktionärsten Strukturen, die hatte das zaristische Rußland, aber es forderte durch seine Existenz in Europa sämtliche anderen Mächte heraus, und es trug die stärkste politische Arbeiterbewegung in sich. Es hatte den zugespitztesten inneren Konflikt, der hohe Industrialisierungsgrad kreuzte sich mit einer Bourgeoisie, die mit Junkertum und Aristokratie verbunden war, Subjektivismus und Selbstüberschätzung zeichneten diese neue „Herren“schicht aus.
II.2 Internationale Vorgeschichte des 1. Weltkrieges -- Die globale Zuspitzung
Mit den neunziger Jahren entwickelte sich ein neuer Typ von Unternehmen, die großen Trusts, die die Märkte zumeist in einigen wenigen überschaubaren Gruppierungen beherrschen, die die Produktion auf eine höhere Stufe heben, auch in Form der Anwendung der Wissenschaften in der Produktion und eines dazugehörigen Rechnungswesens. Man spricht auch von „Monopolen“, man muß aber berücksichtigen, daß dies nur in einigen Fällen auf dem eigenen „nationalen“ Markt zutreffend ist. Im weltweiten Maßstab entbrennt die Konkurrenz um so stärker. Die umfassendste Darstellung des imperialistischen Zeitalters erhalten wir durch Lenins Analysen des Imperialismus[6], die nicht zufällig eine seiner zentralsten theoretischen Aufgaben zur Zeit des 1.Weltkriegs wurde. Neben den ökonomischen Veränderungen im Inneren der kapitalistischen Länder ist vor allem auch die Tatsache, daß die Welt in der Hauptsache aufgeteilt ist, ausschlaggebend. Allerdings ist die Kolonialisierung in dem größten Staat der Welt, in China, noch nicht beendet. Hier entfaltet sich der Kampf zwischen einer zunächst noch bestehenden altertümlichen staatlichen Macht und den neuen auf Annexion zielenden verschiedenen imperialistischen Mächten, die alle versuchen, hier einen entscheidenden Anteil sich zu holen.
England ist schon eine alteingesessene Kolonialmacht in China, mit jahrhundertealten Konzessionen an der Küste und den großen Flüssen. Japan beginnt einen Plan, sich möglichst große Stücke herauszureißen, und stößt dabei auf den russischen Zarismus, der von Norden her kommt. Der USA-Imperialismus bemüht sich als Verteidiger der Integrität Chinas zu erscheinen und zielt darauf, sich in einer langfristigen Strategie zum Beherrscher ganz Chinas zu machen. Der deutsche Imperialismus platzt „störend“ 1897 in diese Situation hinein, und holt mit einem Gewaltakt eine Kolonie an der südlichen Küste der Halbinsel Schantung (Kiautschau). Er löst damit aus, daß Rußland und Frankreich es ihm gleichtun und ebenfalls Küstenpositionen sich sichern. Die Rivalität aber schafft den Boden für einen verstärkten Widerstand Chinas, in dem sich selbst nun zunehmend revolutionäre Kräfte regen. Bei der Unterdrückung eines Aufstandes im Jahre 1900 schließen sich (scheinbar) alle Imperialisten zusammen, versucht sich der deutsche Imperialismus erneut lautstark hervorzutun. Tatsächlich nimmt die Rivalität unter allen Imperialisten auf das Entschiedenste zu, und zwar nicht nur unter den europäischen Imperialisten, sondern auch zwischen den USA und den europäischen Großmächten und Japan.
Diese Vorgänge bilden ein ganz wesentliches Vorspiel des 1.Weltkrieges. Es wird sehr oft auf die Rivalität zwischen England und Deutschland insbesondere im Mittleren Osten, den Kampf um das Gebiet um den Suez-Kanal und dem persischen Golf, gesehen. Tatsächlich war die weltweite verschärfte Rivalität, die ihren Knotenpunkt in Asien hatte, ein Ausgangspunkt für die weltweite Verschärfung, die endgültig auch die Widersprüche in Europa sich entladen ließ. Der Konflikt um China bringt auch den russisch-japanischen Krieg 1904-05 hervor, der die erste russische Revolution von 1905 auslöst. Im Jahre 1911 bricht die alte chinesische Dynastie endgültig zusammen, weil ihre Herrschaft im modernen Zeitalter nicht mehr möglich ist, weil die verschiedenen Imperialisten sich dort gegenseitig das Wasser abgraben und dem chinesischen inneren revolutionären Widerstand die Möglichkeit zur eigenen Revolution ermöglichen. China war eine Halbkolonie, nicht aber wie Indien vollkommen kolonisiert, es sollte nunmehr selbst zu einem Akteur in der internationalen Entwicklung werden. Es galt bei allen imperialistischen Staaten als das größte und verheißungsvollste Profit- und Ausbeutungsgebiet. Mit der Revolution von 1911 mußte sich somit die Lage international dramatisch verschärfen. Jetzt wurde das Ringen um die Vorherrschaft in der übrigen Welt um so dringlicher.
II.3 Der Welt-Konflikt – Das Sitzen zwischen verschiedenen Stühlen
Mit dem Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt sich immer stärker der deutsch-englische Gegensatz in der weltweiten Kolonial- und Handelspolitik, der von einer kurzen Epoche gegenseitiger Umwerbung in eine Phase gegenseitiger Angiftung und Kriegsdrohung in den ersten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts überging. Bereits im Jahre 1904 befürchtete man den Ausbruch eines großen kolonialen Krieges. Diese Zuspitzungen laufen immer schon eingedenk eines anderen dahinterliegenden Konfliktes, des Konfliktes von verschiedenen europäischen Staaten mit den USA. Im Jahre 1898 kam es zu dem ersten neuen imperialistischen Krieg, als sich die USA als die neue Weltmacht die wichtigsten Kolonien, vor allem Kuba und die Philippinen, von der altüberkommenen Kolonialmacht Spanien holen. Dabei treten die USA erst als die Befreier vom alten, noch fast feudalen Joch der Spanier auf, um dann eine um so brutalere Unterdrückung zu betreiben, die alles, was die Spanier begangen hatten, bei weitem hinter sich ließ.
Dieser Krieg wird in den üblichen Geschichtsdarstellungen berührt. Viel weniger aber ist bekannt, daß es im Zusammenhang mit diesem Krieg zum sogenannten Manila-Konflikt kam. Der deutsche Imperialismus kam und forderte nach dem Raubkrieg und dem Völkermord der USA auf den Philippinen einen Anteil an der Beute, konnte sich aber mit den USA militärisch nicht messen. Die USA speisten schließlich den drängelnden deutschen Imperialismus auf einer internationalen Konferenz mit einigen nicht so bedeutenden Inselgruppen im Pazifik ab.[7] Diese neuen Kolonien auf der anderen Seite der Welt sollten die Potenzen Deutschland vollkommen überziehen. Sie gaben den Forderungen nach einer noch wahnwitzigeren Flottenrüstungen und damit der noch größeren Konkurrenz zu England noch weiteren Auftrieb. Als der erste Weltkrieg ausbrach, waren diese Kolonien im Pazifik von den anderen Mächten schnell eingenommen. Es ging bei weitem über ihre Potenzen hinaus, das hatten die deutschen „Weltmacht“-Strategen übersehen.
Die deutsche Regierung sah sich schon ab ca. dem Jahre 1900 einer völligen Isolierung gegenüber. Sie hatte geglaubt, sie habe „die freie Wahl“ unter den Mächten für Bündnispartnerschaft, sah sich am Ende aber immer als Einzelgänger übrig. Man versuchte es im weiteren mit dem Werben um verschiedene Mächte, um die Isolierung wieder loszuwerden, blieb aber letztlich ohne Erfolg.
Von der Zeit des Ausgangs des spanisch-amerikanischen Krieges bis etwa zum Jahre 1902 gab es Versuche, ein neues Bündnis mit England zu Stande zu bringen, und zwar vor dem neuen sich entwickelnden Hintergrund. Der bekannteste derartige Versuch war der Vorschlag des britischen Außenministers Joseph Chamberlain vom November 1899. Deutschland solle einem Bündnis der USA und Großbritanniens beitreten.[8] Darauf ging die deutsche Regierung nicht ein. Und es war in der Tat ein gefährlicher Vorschlag, denn Deutschland wäre durch einen solchen Vertrag zu einem europäischen Festlandsdegen dieser neuen sich abzeichnenden Koalition geworden. Die Isolierung Deutschlands zeichnete sich bereits zu diesem Zeitpunkt ab. Dies war einerseits objektiv bedingt, weil es durch sein Vorpreschen die etablierten Mächte und die neuaufkommenden Mächte wie die USA herausforderte und deren imperialistische Politik untergrub, zum anderen wurde die Isolierung massiv durch die provokante lautstarke „Machtpolitik“ der hohenzollernschen Führung und ihrer Kanzler und Militärs begünstigt. Die gesamte Epoche von 1898 bis 1914 ist durch eine große Zahl von außenpolitischen Konflikten geprägt, die bereits oft an den Rand des Krieges in Europa führen, aber in den meisten Fällen geht es zunächst um koloniale Konflikte, bei denen sich verschiedene imperialistische Mächte unverhohlen um Bodenschätze und Rohstoffe streiten, und insbesondere in China auch um die Eroberung des inneren Marktes. Es geht um Marokko, um Angola, um das ganze südliche Afrika, um den mittleren Osten, um die türkischen Gebiete, um den Pazifik und um Lateinamerika. Aber die Auseinandersetzung kehrt auch nach Europa selbst zurück. Über den Balkan und das Mittelmeer rückt der imperialistische Rivalitätskrieg direkt nach Europa heran.
Ab 1902 beginnt sich die Schlinge endgültig zuzuziehen. 1904 kommt es, wenige Jahre nachdem sich Großbritannien und Frankreich noch wegen afrikanischer Kolonialfragen in einem gefährlichen Konflikt befanden, zur ‚Entente cordiale’ zwischen England und Frankreich mit einer Ausrichtung gegen Deutschland. Da gleichzeitig das schon Jahrzehnte alte Bündnis Frankreichs und Rußlands, das sich explizite gegen Deutschland richtete, weiter existiert, kommt dies einer nahezu vollständigen Umklammerung gleich. Schon damals wird von der aktuellen Gefahr eines unmittelbaren kontinentalen Großkrieges gesprochen, dazwischen aber tritt die russische Revolution von 1905. Sie setzte den Sturz des Zaren und die Entwicklung der proletarischen Revolution auf die Tagesordnung. Das wilhelminische Regime versuchte den Zaren zu decken und unternahm den kurzweiligen Versuch, den völlig maroden Zaren auf die Seite Deutschlands zu ziehen. Aber es gelten ganz andere Gesetze als dynastische Verwandtschaften. Rußland ist vorrangig vom französischen Kapital abhängig, es läßt sich nicht wegziehen, wie das die Illusionisten der wilhelminischen Diplomatie gedacht haben. Der Zar gewinnt seine Macht teilweise zurück, aber er wird fest eingebunden in das Bündnis mit Frankreich und England.
Die deutsche Seite antwortet auf diese Situation schließlich nur noch mit der militärischen Karte, man verläßt sich auf das stärkste Landheer des Kontinents und auf die Marinerüstung, gleichwohl aus der Entwicklung bis zu diesem Punkt schon klar war, daß dies niemals ein erfolgreiches Konzept sein kann. Es herrscht nicht mehr die Lage der 80er und Anfang der 90er Jahre, als Deutschland sich gegen ein französisch-russisches Bündnis wehrte und dabei sogar von den Hauptvertretern der internationalen Arbeiterbewegung unterstützt wurde, denn dies trug den Charakter einer Abwehr eines reaktionären Revanchebündnisses. Seit der Mitte der neunziger Jahre handelte es sich
um eine Macht, die in subjektivistischer Weise mit den anderen Imperialisten
um die „Vorherrschaft“ buhlte und in der der Konflikt mit England (und
dahinterstehend den USA) eine immer größere Rolle einnahm. Es war ein wesentliches Ergebnis dieser imperialistischen Epoche, ihr Sinn, wenn man so will, immer mehr Völker aus den stagnierenden Verhältnissen wie in China oder in den direkt kolonialen Ländern aus dem Schlaf zu holen und selbst zu Aktiven der Weltgeschichte zu machen. Und der deutsche Imperialismus stellt sich voll der Unterdrückung aufbegehrender Nationen zur Verfügung, machte sich gerne zum Paladin des ganzen Imperialismus. In wenigen Fällen tritt er schauspielernd als Vertreter der Unabhängigkeit einzelner Nationen, wie im Falle der Buren oder Marokkos, auf, um sich an anderer Stelle an die vorderste Front der kolonialen Schlächterei zu begeben, wie im Fall Chinas oder bei der Unterdrückung in Lateinamerika oder in den afrikanischen Kolonien. Die Isolierung war einerseits objektiv bedingt, die Politik aus der damaligen Situation heraus war nicht einfach, die Lage „zwischen den Stühlen“ war auch, wie dargestellt, eine Folge des ganzen Konstrukts dieses Staates von 1871. Die andere Seite war der reaktionäre Charakter der inneren Herrschaft, die ein Herauskommen aus der Lage endgültig verunmöglichte.
Im Jahre 1907 schließlich zieht sich der Ring um Deutschland endgültig zu, indem England und Rußland sich in der persischen Frage mit einem Kompromiß einigen. Damit ist die Isolierung fast komplett, und selbst Österreich-Ungarn wird von den anderen Ländern diplomatisch umworben und befindet sich auf Grund der inneren Konflikte in einer erpreßbaren Lage. Noch kommt es aber trotz fortlaufender Konflikte noch nicht zum Kriege. Es ist bekannt, welche verheerenden Waffenpotentiale sich zu beiden Seiten aufgehäuft haben, und welches Risiko ein Krieg für alle beteiligten Mächte bedeuten würde. Davor scheuen zunächst alle zurück.
Die Arbeiterbewegung versucht, auf diese Herausforderungen zu antworten. Aber auf den drei großen Konferenzen in Stuttgart 1907, Kopenhagen 1910 und Basel 1912 wird der Krieg zwar „verurteilt“ und allenfalls Massenstreik angedroht, aber auch dies nur beschränkt. Aber es werden keine ernstzunehmenden konkreten Schritte unternommen, um den Imperialisten in den Arm zu fallen. In den verschiedenen Parteien der II. Internationale melden sich schon die ersten Sozialchauvinisten offen zu Wort. In Deutschland zögert die Sozialdemokratie, die demokratische Frage gegen das vollkommen unmöglich werdende Kaisertum und die feudalen Relikte aufzuwerfen, aus Furcht vor Illegalisierung und auch schon auf Grund von Anpassung.
Diese extrem reaktionären, buchstäblich nach hinten gerichteten Verhältnisse in Deutschland hätten selbst ein Angriffspunkt sein müssen, die aberwitzige Politik des Wilhelminismus und der mit ihm eng verbandelten Unternehmen (Krupp, Siemens, Diskontobank ua.) zu vernichten. Die Wurzeln dieses Versagens liegen unter anderem auch in der Vorgeschichte der deutschen Sozialdemokratie begründet, in dem Lassalleanismus, der die Unfähigkeit und den Unwillen, die breiten nichtproletarischen Schichten zu gewinnen, nach sich zog. Alle jene Fragen wie die nach dem Krieg der Arbeiterklasse selbst gegen ein ultrareaktionäres zu überwindendes Regime, welche früher längst vom Marxismus erfaßt waren, sind hier verdrängt, spielten in dieser Situation bei der Sozialdemokratie keine Rolle.[9]
Kriege werden nicht so gemacht, daß eine Reaktion verkündet, sie wolle jetzt Krieg machen, und dann sich die Arbeiterbewegung in Ruhe darauf vorbereitet. Bei fast allen Kriegen, auch damals, spielten Provokationen und bestimmte Attentate, die die Situation aufheizen sollten, eine Rolle. Im Jahre 1907 und in den Folgenden wußte man noch nicht, daß der Thronfolger Franz Ferdinand zur Initiierung des Krieges ermordet werden würde, aber irgend etwas in dieser Richtung würde passieren. Auch heute gilt das.
II.4 Die Konstellation in Europa
Fassen wir noch einmal zusammen und beschreiben die Dinge in ihrer Gesamtheit: Mit dem Zeitalter des weltweiten Kolonialismus und Imperialismus wurde Deutschland mit den geschilderten überkommenen Strukturen auch noch zur zwar weltweit agierenden, jedoch die eigenen Kräfte überziehenden Macht. (Das Wort „Weltmacht“ sollte man besser vermeiden, auch wenn sich die Potentaten von damals gerne damit schmückten.) Das Kolonialreich war klein, selbst im Verhältnis zu manchen kleineren klassischen Kolonialstaaten in Europa, zudem weltweit rund um den Globus zerstreut. Was die ökonomische Entwicklung betraf, so erfolgte sie für europäische Verhältnisse ziemlich schnell. Aber die USA entwickelten sich seit den neunziger Jahren noch um ein vielfaches schneller als Deutschland. Desgleichen entwickelte sich auch Japan als neue beherrschende Macht im pazifischen Raum. Es entwickelte sich zumindest vergleichbar wie das wilhelminische Deutschland. Diese neue europäische Macht machte sich überall unbeliebt, vor allem die führende Klasse mit ihrem aufdringlichem Gehabe. Mit ihren Anmaßungen und ihrem vollkommen sprunghaften politischen Gebaren, mal in diese, mal in jene Richtung ein Bündnis zu suchen, konnte sie nicht anders als das Land weiter zu isolieren. Hatte Friedrich Engels Deutschland noch gegen die Umkreisung und Revancheversuche bis Anfang der 90er Jahre unterstützt, so stellten sich mit der fortschreitenden „Großmachtpolitik“ dieser reaktionären Klasse zunehmend andere Aufgaben. Es wird zu untersuchen sein, inwieweit die Sozialdemokratie die notwendigen Attacken gegen dieses Regime und seine Außen“politik“ führte und seine Schwächen ausnutzte.
Mit dem Beginn des Zeitalters des Imperialismus um die Jahre 1896-98 verschärfte sich die Lage im Inneren erst recht. Nun war die Sozialdemokratie erst recht gefordert, aber in deren Reihen machten sich Revisionismus und zuweilen auch offener Chauvinismus breit. Die Schwächen der vorherigen Epoche in dieser Partei verschmolzen nun mit allgemeiner Reaktion und dem Eroberungsdrang des neudeutschen Imperialismus. In der Epoche von 1900 bis 1914 zeichnete sich die Kriegsituation in Europa, wie sie sich dann tatsächlich entlud, ab, und es wird noch zu untersuchen sein, warum die Arbeiterbewegung, die II. Internationale, nicht wirkliche Schritte unternahm, und nicht nur ein paar Manifestationen erließ, um den Fall des Krieges vorzubeugen. Der Fall einer Großmachtpolitik durch den neuen Emporkömmling und der Umkreisung der anderen Großmächte gegenüber diesem und dazu noch das Wirken der USA, die in Konkurrenz zu allen trat, konnte den Sozialisten nicht entgangen sein
II.5 Die internationale Lage - Die Kalkulation der verschiedenen Mächte
Seit dem Ende der 90er Jahre schon war deutlich geworden, daß es eine größte imperialistische Macht gibt, die alle anderen überrundete und zu einer wirklichen Weltmacht heranreifte. Dies waren die Vereinigten Staaten von Amerika. Zu dieser Zeit bereits müssen auch die Analytiker der deutschen Führung diese neuen Kräfte der USA gesehen haben. Wenn sie dennoch mit ihrem pompösen Reden sich auf England konzentrierten und es herausforderten und höchstens unterschwellig von den USA sprachen, muß dies seinen Grund haben.
Wider besseres Wissen arbeitete die deutsche politische und militärische Führung in dem Glauben, daß sich der Krieg hier auf Europa beschränken würde. Selbstverständlich aber mußte man mit einer Teilnahme der USA, und zwar auf der Gegenseite, rechnen. Die Kalkulation der USA war seit langem bekannt. Sie beruhte darauf zu warten, welche Seite die stärkere sein würde, um dann entsprechend einzugreifen. In jedem Fall aber würden sie nicht zulassen, daß Deutschland eine dominante Rolle in Europa bekommen würde, denn Europa war selbst ihr Zielgebiet für die expansionistische Ausbreitung. Deswegen war die Kalkulation der deutschen Führung von Anfang an auf Sand gebaut. Darüber konnten auch einzelne militärische Erfolge in der Anfangsphase des Kriegs nicht hinwegtäuschen. Aber bei Leuten, denen es letztlich darum geht, das eigene Volk zu dezimieren und zu disziplinieren, ist eine andere Kalkulation auch gar nicht zu erwarten.
Was die andere Seite angeht, so sind sie von ihrer ganzen politischen und moralischen Stellung her nicht einen Deut besser. Es geht keineswegs nur darum, den Deutschen die paar in ihrem Besitz befindlichen Kolonien wegzunehmen, sondern vielmehr hatte dieser Krieg im Verlaufe zunehmend auch den Charakter einer Revanche, eine auf Zerschlagung Deutschlands zielende Stoßrichtung. Sie sprachen von einem „Störenfried“ der Entwicklung, der ihre Herrschaft begrenzen würde. Am liebsten hätten einige von ihnen Deutschland wieder in den Zustand der weitgehenden Zersplitterung von vor 1866 gebracht. Das allerdings konnten sie nicht verwirklichen. Die Zielsetzung dieses Krieges von der Seite Frankreichs, Englands und Rußlands war jedenfalls die völlige Zurechtstutzung Deutschlands und die Unterordnung unter die alten vorherrschenden Kräfte. Keineswegs ging es nur um die Umverteilung der Kolonien, das ist eine völlig abwieglerische Analyse.
Wie Lenin schon im Jahre 1917 erwähnte, gab es Pläne von russisch-zaristischer Seite nicht nur sich an der Aufteilung der Türkei, Persiens und Chinas zu beteiligen, sondern auch Ostpreußen zu erobern und Österreich-Ungarn aufzuteilen. Hierzu hatten die Alliierten und Rußland ihre Verträge. Als die neue provisorische Regierung nach dem Februar 1917 die Macht ergriff und der Zar gestürzt, wurde, wurden diese Verträge noch nicht einmal veröffentlicht.[10] Die Deutschen aber konzentrierten sich auf europäische Eroberungen wie die Annexion Belgiens, entgegen den ursprünglichen Bezeugungen, Annexion von französischen Kohlegebieten, sowie anmaßende Ansprüche, den ganzen Osten beherrschen zu wollen, wie es vorher schon der berüchtigte „Alldeutsche Verband“[11] verkündet hatte.
Die Kriegszielsetzung lief also nicht nur auf die Einkassierung der Kolonien der Kontrahenten hinaus, sondern auch auf Raub und Zerschlagung von deren eigenen Territorien. Man kann den ganzen 1. Weltkrieg aber nicht analysieren ohne auf die internationalen Gesamtzusammenhänge zu sehen. Die primäre Auseinandersetzung war in Europa zu sehen, aber dies durchaus vor dem Hintergrund weitergehender Weltmachtpläne. Wer Europa in der Hand hatte, konnte auch in der imperialen Auseinandersetzung mit ganz anderen Karten spielen. Das gilt für beide Seiten. Die deutschen Imperialisten werden mit Sicherheit gedacht haben, wenn sie Europa dominieren, können sie auch mit den USA konkurrieren. Umgekehrt war für die USA klar, wenn sie Europa in die Hand bekommen, ist damit auch die Grundlage für eine internationale umfassende Hegemonie gegeben, dabei hatten sie allerdings die langandauernde und erfolgreiche sozialistische Revolution nicht einkalkuliert.
Die Kalkulation der USA und des entsprechenden Kapitals lief jedenfalls darauf hinaus, aus diesem Krieg den maximalen Gewinn für sich selbst herauszuschlagen, die Verluste der USA so gering wie möglich zu halten und durch Selbstzerfleischung und Gegeneinander-Aufhetzen der europäischen Nationen selber den Gewinn daraus zu ziehen. Die internationale Bankenwelt war damals schon untereinander zutiefst verknüpft. Das bekannteste und berühmteste, größte Bankhaus der USA, das Bankhaus Morgan, hatte sich schon im Gefolge des Kriegs von 1870/71 zwischen Deutschland und Frankreich enorme Vorteile in den USA verschafft und war seitdem zur größten Finanzmacht herangereift. Dieses Bankhaus hatte nicht nur in New York und London eine Stütze, sondern war auch mit den deutschen Bankhäusern, z.B. der Deutschen Bank, verknüpft. Die ökonomische Entwicklung in dieser Hinsicht kann auch Analytikern der damaligen Zeit nicht entgangen sein. Die Überholspur des US-Imperialismus und des US-Finanzkapitals im besonderen war unverkennbar in den 15 - 20 Jahren vor dem 1. Weltkrieg zu erkennen. Es waren die zugespitzten sozialen Widersprüche in den europäischen Staaten, die Konzentration auf das Innere, wie auch eine gewisse Beschränktheit der Sicht, die die kontinentalen Europäer, namentlich die Deutschen, auszeichnet, die offensichtlich dazu führten, solche Faktoren der internationalen Politik zu übersehen.
Trotz dieser Ausgangslage betrieb die deutsche Führung eine Politik der Provokation, die dieses Land zunehmend zwischen alle Stühle brachte. Trotz dieser genannten Faktoren wurde, letztendlich aus Feindseligkeit gegenüber der Arbeiterklasse und der modernen Entwicklung heraus, dieser Erste Weltkrieg begonnen. Im Schoße dieses Staates waren gewaltige Produktivkräfte, Produktion auf dem organisierten und höchsten Level wie auch erhebliche wissenschaftliche Potenzen herangewachsen. Gerade weil diese Moderne in Verbindung auch mit einer hochorganisierten Arbeiterklasse sich entwickelt hatte, deshalb gab es ein zusätzliches Motiv, für die altüberkommenen Klassen der Junker und den völlig obsoleten Monarchismus, einen Krieg zu forcieren.
II.6 Die Rolle der Sozialdemokratie
Die wichtigste Analyse, um das Wesen des Imperialismus zu erfassen, bleibt bis jetzt Lenins Analyse „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ sowie einige damit im Zusammenhang stehende kleinere Darstellungen. Das bleibt, es kann uns aber nicht davon abhalten, die weiteren Erfahrungen des 20. Jahrhunderts in unsere heutige Analyse mit einzubeziehen, etwa die Rolle der USA zu erfassen, die Konstellation auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts weitergehender zu erfassen, als dies damals geschehen ist.
Es ist bekannt, daß die Mehrheit der deutschen Sozialdemokratie unter Bruch aller vorher besprochenen Prinzipien und Grundsatzerklärungen dennoch diesen imperialistischen Krieg am Anfang unterstützte und ihm dadurch den Weg freimachte. Anstatt die imperialistischen Absichten und dreisten politischen Manöver der deutschen Führung anzugreifen und damit den imperialistischen Krieg wenigstens von dieser Seite her zu verhindern, haben sie diesen Krieg unterstützt. Dabei tut dieser Tatsache keinen Abbruch, daß Deutschland selbst isoliert und in gewisser Weise militärisch eingekreist war. Die Sozialdemokratie hätte alle Möglichkeiten gehabt, auch diesen Umstand zu berücksichtigen. Die wilhelminische Führung selbst hatte durch ihre Politik diese Isolierung mit begünstigt und somit die Situation heraufbeschworen, im Glauben, sie können die Lage allein durch ihre militärische Überlegenheit auf dem Kontinent entscheiden. Schon Jahrzehnte vor dem Ausbruch dieses Krieges wußte man, daß in diesem zu erwartendem Krieg militärische Potentiale in noch nicht gekanntem Ausmaß aufeinandertreffen werden mit entsprechender Zerstörungskraft. Deutschland konnte allenfalls eine hegemoniale Rolle in Europa, nicht aber im internationalen, das heißt weltweiten Maßstab erreichen. Bei realistischer Betrachtung konnte dieser Krieg nur mit einer Zerstörung und Selbstzerstörung enden.
Die Sozialdemokratie, die zur weitaus stärksten und politisch einflußreichsten Arbeiterpartei in der Welt herangewachsen war, kam mit diesem Krieg in eine Prüfung, die die verschiedenen prinzipiellen Fehler praktisch und unmittelbar hervortreten ließ. Auf der einen Seite finden wir die Richtung des offenen Chauvinismus, der Verbindung mit der junkerlichen, aristokratischen und großindustriellen Gruppen der herrschenden Klassen vor. Ihre Politik wurde letztlich in den ersten Jahren des 1. Weltkrieges maßgebend für die Mehrheit der Sozialdemokratie. Auf der anderen Seite hatten wir die linke Sozialdemokratie, die sich durch Abgrenzung oder im besseren Fall auch durch Bekämpfung des abenteuerlichen Chauvinismus auszeichnet, zugleich aber eine Menge Fehler in der Frage des bewaffneten Kampfes und in den Grundsatzfragen der Sozialdemokratie mit sich herumträgt.
Es ist unabdingbar, wenn man die Fehlerhaftigkeit und das Versagen der Sozialdemokratie analysiert, auch auf die Gegensätze von „linken“ Sozialdemokraten zum Marxismus und den Grundpositionen der Arbeiterbewegung hinzuweisen. Im Jahre 1875 hatten Marx und Engels mit aller Deutlichkeit auf die falsche Durchsetzung der Partei mit lassalleanischen Positionen hingewiesen und diesen den Kampf angesagt.[12] Im Jahre 1891, nach dem Ende der Sozialistengesetze, ließ Friedrich Engels 8 Jahre nach dem Tode von Marx dessen und seine eigene Kritik gegen den Widerstand der sozialdemokratischen Führung veröffentlichen. Diese Kritik stieß nicht nur auf den Widerstand der rechten Sozialdemokraten, sondern auch solcher Persönlichkeiten, die als Linke galten. Zu den Hauptopponenten der Veröffentlichung dieser Kritik gehörten nicht nur Eduard Bernstein, der spätere besonders direkte Repräsentant des Revisionismus, sondern auch Wilhelm Liebknecht.[13] Diese Kritik faßte noch einmal die politischen und ökonomischen Grundpositionen der Lehren des Marxismus[14] zusammen. Sie umfaßte die Herausarbeitung der Lehre vom Staat und arbeitete heraus, die Diktatur der Bourgeoisie durch eine Revolution zu stürzen. Sie umfaßte die unmißverständliche Verurteilung der Lassalleanischen Theorie, die statt das Bündnis mit der demokratischen bürgerlichen Entwicklung zu suchen, die Verbindung mit den überkommenen Klassen betrieb, und die den Sozialismus als Stütze des junkerlichen Staates sah.
Wir sehen, wie später die Fehler der Sozialdemokratie zu dem Versagen der Sozialdemokratie bei dem Ausbruch des 1.Weltkrieges führten. Es gab kein ausreichendes Bemühen, diese aufzuarbeiten. Karl Liebknecht, dieser bekannteste Vertreter des Kampfes gegen den Militarismus vor dem 1.Weltkrieg, nimmt in Fortsetzung der Fehler der Sozialdemokratie eine Position des allgemeinen Kampfes gegen den Krieg oder gegen den Militarismus ein, die im Laufe des 1.Weltkrieges gerade durch Lenin kritisiert wurde und anknüpfend an die Wiederentdeckung der Lehren von Marx und Engels von Lenin neu und prägnanter aufgestellt wurde.[15] Rosa Luxemburg bringt viele interessante und aktuelle Analysen zur damaligen Entwicklung, aber die vielleicht wichtigste politische Frage, die Frage der Unvermeidlichkeit des revolutionären Krieges, wird ausgespart. Die längst vorhandene Kritik von Marx und Engels an der Sozialdemokratie und ihrer Staatsauffassung, die schon 1891 behandelt wurde, wo fand sie in der Sozialdemokratie einschließlich der Linken überhaupt Berücksichtigung? Diejenige Sozialdemokratie, die im weiteren als offene Sozialchauvinisten hervortrat, stand erst recht auf dem Boden dieses „Staatssozialismus“, wie er in der sozialdemokratischen Bewegung Verbreitung gefunden hatte. Der Sozialchauvinismus konnte aus dieser Schwäche des sozialen Pazifismus in der Arbeiterbewegung seinen Gewinn ziehen. Niemand kann nämlich glaubhaft gegen den imperialistischen Krieg Propaganda machen - und an Bemühungen hat es in den Parteien der 2.Internationale weltweit in der Zeit von 1900 bis 1914 nicht gefehlt - wenn man nicht klar macht, daß im Zweifelsfall auch nicht vor Illegalität und Entwicklung von bewaffneter Revolution gegenüber diesen hochgerüsteten bürgerlich-imperialistischen Staaten zurückgeschreckt wird. Mit Demonstrationen und Massenstreikbewegung kann niemals ein imperialistischer Krieg aufgehalten werden. Es stellt sich die Frage, inwieweit im Vorfeld des Krieges die Sozialdemokratie zum Beispiel eine Arbeit in den deutschen Armeen und insbesondere unter ihren eingezogenen Wehrpflichtigen unternahm.
Die Arbeiterbewegung war somit ein mächtiger Faktor, aber sie hatte ihre Schwächen, die in der Zuspitzung des 1.Weltkrieges zu einer tödlichen Gefahr für die revolutionären Kräfte im Volke wurden. Die westlichen Alliierten, die USA, Großbritannien und Frankreich, verunglimpften die deutsche Arbeiterbewegung und behaupteten, daß sie zur Revolution unfähig sei, und von ihr nur die brutale Unterstützung des deutschen Imperialismus zu erwarten sei. Das war eine Verleumdung, die sich schon während des 1. Weltkrieges in der Praxis widerlegte, denn in der zweiten Hälfte dieser Kriegsepoche schwoll der Widerstand immer mächtiger an, bis hin zum spontanen Aufstand gegenüber der herrschenden Gewalt. Diejenigen, die zuvor über die Arbeiterklasse in Deutschland gehöhnt hatten, sahen sich nun einer ernsthaften revolutionären Bewegung gegenüber, die sie mit allen Mitteln zu verhindern suchten. Aber daraus folgte keineswegs etwa eine Anerkennung durch diese sogenannten Mächte der Demokratie im Westen, sondern verstärkte Bemühungen, diese Arbeiterbewegung absolut unter die Kontrolle zu bekommen. Ganz im Gegenteil zu ihren verächtlichen Bemerkungen der deutschen Arbeiterklasse gegenüber waren sie bemüht, mit einer Beendigung des Krieges unter allen Bedingungen von innen und außen auf diese revolutionäre Bewegung Einfluß zu nehmen.
II.7 Sozialdemokratie und Woodrow Wilson
Wir sehen dann in der zweiten Hälfte des Weltkrieges, in der die unversöhnlichen Widersprüche zur arbeitenden Klasse zu Tage treten, daß die Mehrheitssozialdemokratie, und erst recht die mit ihr lange Zeit verbandelten „Unabhängigen“, sich zunehmend den USA zuwenden und den Präsidenten der USA, Woodrow Wilson, als vermeintlichen Friedensbringer feiern und ihm in die Hände spielen. Die gleiche Mehrheitssozialdemokratie, die zu Anfang des Krieges den kaiserlichen Krieg deckte und sogar aktiv propagierte, ging etwa ab 1917 zu immer wesentlicheren Teilen zur Unterstützung der USA über.
Wie weit diese Verbindung deutscher politischer Kräfte ging, wird in der Öffentlichkeit wenig thematisiert. Dabei wirkten politische Instrukteure aus den USA dabei mit, die revolutionären Ansätze und Keime eines militärischen revolutionären Widerstandes ab Ende 1918 unmittelbar und blutig zu unterdrücken. Die neuen herrschenden Mächte, die mit dem Waffenstillstand von Compiègne auf Deutschland zugriffen, berieten die Ebert-Regierung wie auch die Freikorps, die speziell zur Unterdrückung der Arbeiterbewegung geschaffen wurden. Sie nahmen die Unterweisung dieser Kräfte in die Hand, selbst auf die Gefahr hin, daß ein neuer Militarismus hiermit gefördert werden könnte. Die Unterdrückung der proletarischen Revolution in Deutschland war Aller vorrangigstes Ziel, gleichgültig welche abstrakten Phrasen in Sachen Demokratie und „Menschenrechte“ diese „demokratischen“ imperialistische Mächte äußerlich von sich gaben.
Erfassen kann man dies am besten, wenn man die Zitate aus der damaligen Zeit sieht. Die Unterdrückung durch bewaffnete Freikorps ist eine Sache. Die Öffentlichkeit, namentlich die Mehrheit der Arbeiterklasse, muß auch durch entsprechende Propaganda zur Duldung dieser neuen faktischen Herrschaft gebracht werden. Von daher ist auch die politische Stellung der Sozialdemokratie, die über Jahrzehnte einen Einfluß in der Arbeiterklasse aufgebaut hatte, sehr bedeutend. Wilson, Wilson, Wilson so lautete das Credo dieser „Arbeiterpartei“.
Hierzu verfügen wir über sehr einschlägige Darlegungen. Auf der Konferenz der III. Internationale am 2.März 1919 gab der damalige Vorsitzende G. Sinowjew wieder, was er über die Berner Konferenz der sozialdemokratischen Parteien in Bern kurz zuvor erfahren hatte:
„Bezeichnend sind schon
die Umstände, unter denen die Eröffnungssitzung stattfand. Die Konferenz
wurde von Branting eröffnet, und in seinen ersten Worten gedenkt er
der Entstehung der Internationale und ihres Präsidenten Jaurès, zu
dessen Ehren sich alles erhebt. Dann, fährt der Bericht fort, schlägt
Herr Branting vor, einen zweiten Mann zu feiern, einen Lebenden, und
zwar Herrn Wilson. Sie sehen Genossen, schon die ersten Worte des Vorsitzenden
waren sehr bezeichnend: Zur linken Hand unser verstorbener Jaurès, zur
rechten der noch lebende Wilson! ... Kommentare sind überflüssig.“ [in „Der 1. Kongress der kommunistischen Internationale - Protokoll der Vehandlungen in Moskau vom 2. bis zum 19. März 1919“, Seite 156]
Jean Jaurès war ein bekannter französischer sozialistischer Führer mit einer insgesamt internationalistischen Einstellung, der am 31. Juli 1914, direkt im Zusammenhang mit der In-die-Wege-Leitung des 1. Weltkrieges von der französischen Reaktion ermordet wurde, da er ihren Kriegsabsichten im Wege stand.
II.8 Kautsky und die USA
Ein schlagendes Beispiel, wie weit die Anlehnung an die USA ging, bildet ein Artikel von Karl Kautsky vom 17. November 1918 in der Zeitung „Die Freiheit“, einem Organ der USPD. In diesem geht Kautsky unter dem Titel „Der Sieger im Weltkrieg“ zum direkten Lakaientum für die USA und den britischen Imperialismus über. Die Lobpreisung der „Siegermacht“ kennt nun keine Grenzen mehr. Nun ist es das angelsächsische Wesen, an dem die Welt genesen soll.
Es heißt in diesem Artikel:
„Der Respekt vor der Demokratie ist den Angelsachsen zur zweiten Natur geworden, das heißt der Respekt vor der gesetzgebenden Gewalt der Mehrheit, der Respekt vor der Aktions- und Propagandafreiheit der Minderheit. Der Respekt vor dem demokratisch zustande gekommenen Gesetz, Respektlosigkeit und offener Widerstand gegenüber jeder angemaßten Gewalt. Weitestgehende Ersetzung der Bureaukratie durch Selbstverwaltung, Unterordnung der Bureaukratie unter die Vertretungen des Volkes. Auf diesen Grundlagen hat sich der Charakter der Völker gebildet, die jetzt im Weltkrieg den Sieg davongetragen haben. Dieses demokratische Wesen wird die Welt erobern, nicht nur die heute besiegten Staaten, sondern auch jene Gebiete des Siegers, die er selbst bisher nicht nach demokratischen, sondern nach polizistischen Methoden regierte, wie Irland, Indien, Ägypten. Und mit diesem Wesen wird auch bei uns der Sozialismus erwachsen, nicht durch Übertragung der Polizeimethoden ins proletarische, nicht durch Terrorismus und Dekretinismus.“
Wie makaber dies ist, begreift man erst, wenn man die konkreten Bedingungen der damaligen Situation berücksichtigt. Die USA arbeiteten daran, die Revolution in Deutschland, auch unter Anwendung von Gewalt, zu unterdrücken. England bereitete seine bewaffnete Intervention in Rußland vor. Überall wurde die polizeiliche Gewalt dieser Staaten angewendet, um die Arbeiterbewegung rund um den Erdball zu verfolgen. Der gleiche Kautsky hatte noch zu Anfang des Krieges jede Kritik an dem Pro-Kriegskurs der Sozialdemokratie innerhalb der Partei untersagen wollen.
II.9 Die USA und die Ausnutzung der europäischen Lage
Nicht nur die eigenen Reaktionäre haßten die Arbeiterbewegung im Lande. So betrachteten führende Exponenten des Kapitals der USA die deutschen Konkurrenten als einen „Störfaktor“, wie sich einer schon in den neunziger Jahren ausdrückte. Dabei war ihnen bewußt, daß für ihre eigene langfristige Strategie, gegenüber Europa die Dominanz und Vorherrschaft zu erlangen, die Situation in Deutschland eine Kettengliedfunktion erlangen würde. Für sie existierte zwangsläufig nicht nur die militärische und imperiale Konkurrenz gegenüber England und Deutschland, sondern auch die von gegenseitigen Rivalitäten beherrschte Situation unter den europäischen Mächten selbst. Die Lage einer Macht wie Deutschland, die innerhalb Europas nun die größten industriellen Potenzen vertrat, und zugleich im Kontinent zwischen alle Stühlen zu fallen drohte, war von Wichtigkeit für ihre eigene Strategie. Das wilhelminische Deutschland wies neben den USA das schnellste Wachstum der industriellen Potenzen auf, die dennoch für die USA, die noch schneller wuchsen, letztlich keine ernsthafte Gefahr darstellten. Ein Konkurrent für die USA war noch England, das zwar industriell in seiner Bedeutung zurückfiel, aber mit seinem ein Viertel der Erde ausmachenden Kolonialbesitz durchaus noch ein Konkurrent bei den Weltmachtambitionen darstellte. Von daher kam doch das lautstarke und aufdringliche Auftreten von Wilhelm und seiner Regierung für sie gar nicht ungünstig. Sollte es zu einem kontinentalen Krieg in Europa kommen, und von der Möglichkeit sprach man schon seit Jahrzehnten, dann bestand für sie die Frage, wie sie dies zu ihrem Vorteil nutzen konnten. Die Abneigung, die in amerikanischen imperialistischen Kreisen seit Ende der 90er Jahre gegenüber Deutschland existierte, bezog sich nicht nur auf die Konkurrenz, sondern noch mehr auf die Existenz der stärksten Arbeiterbewegung in der damaligen Welt, die, im Großen und Ganzen nach marxistischen Erkenntnissen arbeitend, auf die Verwirklichung des Sozialismus auf moderner Grundlage hinarbeitete. Die letztere Furcht und Abneigung teilten die Führung der USA mit den deutschen Imperialisten selbst. Es ist dies der doppelte Gesichtspunkt, der ihre Politik gegenüber Deutschland beherrschte.
Diese Gefahr für den internationalen Kapitalismus sollte durch diesen Krieg aus der Sicht der verschiedenen Urheber ausgeschaltet werden. Und auf dieser Grundlage kann man die Bedeutung ermessen, daß gerade in diesem Land sich ab etwa 1916 eine zunehmende antimilitaristische und gegen die Mehrheits-Sozialdemokratie gerichtete revolutionäre Bewegung entwickelte, die in die Fußtapfen des früheren revolutionären Marxismus einstieg, auch wenn sie nicht von Fehlern frei war. Im Unterschied zu Rußland, wo die Bauernmassen den allergrößten Teil der Bevölkerung bildeten, handelte es sich hier um eine Bewegung des Industrieproletariats, das schon die Mehrheit im gesamte Lande ausmachte. Diese Bewegung zu vernichten, mußte in dem Maße, wie die militärische Lage Deutschlands aussichtslos wurde, in den Mittelpunkt alliierter Kriegsführung gelangen. Dies spiegelt sich zunehmend in der Politik des Herbstes 1918 und des ganzen Jahres 1919 wieder.
Die westlichen „demokratischen Mächte“, insbesondere die USA, mischten sich kurzentschlossen sofort mit dem Ende der kaiserlichen Herrschaft in die Unterdrückung der Arbeiter- und Soldatenbewegung in Deutschland ein. Die sog. Freikorps, die Noskeschen Leute, operierten auch in Verbindung mit USA-Agenten, die sie bei den verbrecherischen Handlungen anleiteten. Diese Macht trat dabei immer unter der Friedensmaske und der Menschenrechtsfähnelei, mit dem Gerede von allgemeiner Demokratie usw. usf. auf, hier entstanden die Grundlagen für die kommende sog. „internationale Gemeinschaft“. Man griff in das innere Leben dieser neuen deutschen Republik (Weimarer Republik) ein, um substantielle Beeinflussung und Aufwiegelung von Bevölkerungsteilen in ihrem Sinne – man kann im gewissem Sinne sagen: Klassenkampf im Sinne der Alliierten in völlig verzerrter Form – zu erreichen. Ein solches Konzept ist übrigens nicht neu. Marx und Engels wiesen schon im 19. Jahrhundert darauf hin, daß Rußland es glänzend verstand, seit Jahrzehnten den Klassenkampf auf seine Weise zu führen. Bei der Teilung Polens machte es auf Klassenkampf gegen die Gutsbesitzer, gegen die polnische Oberschicht, um dann mit dieser zusammen das polnische Volk zu unterdrücken. Das ist ein uralter Trick, der von allen imperialistischen Mächten angewendet wird, aber am erfolgreichsten von den größten imperialistischen Mächten mit ihren entsprechenden Möglichkeiten ausgenutzt wird.
Mit der Vorlage des Versailler Friedenvertrags im Mai 1919 kamen alle diese Zielsetzungen endgültig offen ans Tageslicht. Deutschland wird faktisch völlig unterworfen, es wird in das innere Leben Deutschlands eingegriffen. Oft kam später der Vergleich, daß zuvor die Deutschen Rußland den Raubfrieden von Brest-Litowsk aufdrückten, und jetzt sie den gleichen Terror von Seiten der Alliierten erfuhren. Das ist allerdings eine Untertreibung. Brest-Litowsk war zweifellos ein Raubfrieden, der Rußland hohe Kontributionen auferlegte und es von der westlichen Seite her einschnürte. Aber der Kern der russischen Sowjetmacht blieb souverän. Die Sowjetmacht mußte schwere Bedingungen schlucken, aber sie blieb als souveräner Staat intakt und konnte deswegen für das Weitere operieren. Der „Friede“ von Versailles geht viel weiter. Mit ihm in Verbindung wird versucht, in das Innere des deutschen Staates einzudringen, ihn auf lange Sicht gefügig zu machen und die verschiedenen politischen Kräfte im Inneren gegeneinander auszuspielen. Das Standbein, das die USA bei der Unterdrückung der Arbeiterbewegung hatten, als sie hinter Noske und Co. standen, war dabei ein gutes Einstiegsfenster für alle übrigen Operationen. Deutschland wurde mit so hohen Kontributionen belegt, daß es für viele Jahrzehnte an Schulden abzahlen sollte. Viele bürgerliche Parteien und auch Parteien des Proletariats wurden, wie wir gesehen haben, faktisch zu ihren Lakaien. Das mußte Orientierungslosigkeit und Verzweiflung fördern, die man exzellent dann wieder gegen dasselbe Volk richten konnte. (Dies ist eine Methodik, die sich später in anderen Ländern wiederholte. Ein wichtiges Beispiel ist dafür der Iran gegen Ende der siebziger Jahre des 20.Jahrhunderts.) Es wurde eine ökonomische Diktatur gegen Deutschland geschaffen, die alles weitere ruinieren sollte. Manche der ökonomischen Diktate richteten sich gegen die westlichen Staaten, als die Urheber, selbst. Die spätere internationale Krise von 1929 geht auch auf die Unterwerfung Deutschlands in ökonomischer Hinsicht zurück.
II.10 Die Politik der proletarischen Partei unter den internationalen Bedingungen
Die Lage aber für die proletarische Partei in Deutschland mußte von daher notgedrungen äußerst kompliziert sein, und damit kommen wir zum Ausgangspunkt zurück. Wie sollte sich die proletarische Partei unter diesen Bedingungen politisch zu der Unterdrückung stellen? Der Versailler Vertrag wird von der KPD angegriffen, das ist unzweifelhaft, das war auch selbstverständlich. Wie aber mit der komplizierten Doppelseitigkeit der Bourgeoisie, ihrer eigenen in sich widersprüchlichen Lage umgehen? Die Bedingungen des Versailler Vertrags und überhaupt der ganzen neuen Diktatur mußten zahlreiche Formen des Widerstandes auf verschiedensten Ebenen von verschiedensten Klassen gegenüber dieser Politik hervorbringen. Es galt also, die nationale Frage in Deutschland von Anfang an zu gestalten. Hier kommen wir auf einen wesentlichen anderen Schwachpunkt, der die deutsche Arbeiterbewegung mit beherrschte. Das ist die Frage der Bündnispolitik mit bestimmten bürgerlichen Kräften, die sich je nach der Lage stellte. Wir hatten oben schon festgestellt, der Lassalleanismus[16] spielte bei der Entwicklung der Arbeiterbewegung trotz des Widerstandes von Marx und Engels eine bedeutende Rolle. Diese Richtung liebäugelte mit einem Bündnis mit den altüberkommenen Klassen, mit Aristokraten, mit sog. speziellen Verhandlungen mit Bismarck und dem preußischen Königshaus, lehnte aber eine breitere Mobilisierung der Bauernschaft ab und stellte sich überhaupt gegen das Programm der Demokratie, das sich grundsätzlich mit der Politik der Arbeiterbewegung zu verbinden hat. Die spätere Politik der Sozialdemokratie war von diesen Traditionen noch gefärbt und setzte diese fort. Mit dem Zeitalter des Imperialismus kommen neue Komponenten in die Arbeiterbewegung hinein. Diese neuen Bedingungen ermöglichten es dem fortgeschrittensten Kapital noch viel mehr als vorher bereits während der Jahrzehnte vor dem ersten Weltkrieg, erhebliche Teile der Arbeiterklasse durch Teilhabe an den Extraprofiten in einem ganz anderen Ausmaß als früher, Schichten der Arbeiterklasse an diesen modernisierten Kapitalismus anzuketten, sie mit den Interessen der internationalen Ausbeutung zeitweilig zu verbinden. Die alten Fehler der Arbeiterbewegung verbanden sich nun mit diesen neuen Formen der Korrumpierung. In Deutschland wirkt unter diesen Bedingungen die Ablehnung eines demokratischen Programms (als Minimalprogramm der Revolution) fort. Die Ablehnung der von Marx und Engels auf den Erfahrungen fast des gesamten 19.Jahrhunderts geschaffenen Staatstheorie mit ihrer Zielsetzung, auf die überwiegende Mehrheit gestützt die bürgerliche Herrschaft letztlich auch auf dem militärischen Sektor zu schlagen, fand weitere Nahrung.[17]
Hier gab es negative Traditionen, die die Verfolgung einer korrekten Politik in der komplizierten Situation der Jahre 1918/19/20 behindern mußten. Wir sehen das heldenhafte Auftreten der Arbeiterklasse während des Krieges, in großen Demonstrationen und Streikbewegungen ab 1916, die Arbeiter und nicht zuletzt die Arbeiterinnen spielen einen aktiven Part, den imperialistischen wilhelminischen Krieg zu Fall zu bringen. Die Losung lautet „Gegen den Krieg!“ Die Hoffnung besteht darin, mit der Revolution im eigenen Land zugleich die Revolution in anderen Ländern auszulösen. Gelingt dies aber nicht gleich und synchron, so ist damit zu rechnen, daß überlegene Imperialisten den Zugriff auf das eigene Land betreiben, um dann zur gemeinschaftlichen Niederschlagung der Revolution im eigenen Land zu schreiten. Diese Rolle, namentlich die der immer gewichtiger werdenden USA, mußte begriffen werden. Es gibt eine grundlegende Schwäche der deutschen Partei, mit der internationalen politischen Situation fertig zu werden. Dabei ist doch elementar damit zur rechnen, desto mehr die eigene Revolution Erfolg hat, desto stärker wird dieser Eingriff von außen werden, solange nicht die Revolution in den anderen Ländern auch zum Erfolg kommt. Also mußten die demokratischen Fragen in Verbindung mit den proletarischen Fragen dieser Jahre eine bedeutende Rolle einnehmen.
Welche Irrtümer in dieser Hinsicht herrschten, wird auch daran deutlich, daß die Spartacusleute in offensichtlicher Überschätzung der Stärke des deutschen Imperialismus bis zum Herbst 1918 noch der Ansicht waren, dieser könne den Krieg gewinnen, obwohl diesem zu dieser Zeit bereits das Wasser bis zum Halse stand und außer ein paar unverbesserlichen militärischen Subjektivisten niemand mehr an einen solchen Sieg glauben konnte.
Die komplizierte Lage mußte bewältigt werden, indem man die Abrechnung mit den verkommenen Klassen des Grundbesitzes und des Adels, der Aristokratie, der Bourgeoisie, die sich mit ihr verbündete, wie auch mit dem Kleinbürgertum, soweit es den Imperialismus unterstützte, auf die Spitze treibt, und zugleich sich auf den Angriff intervenierender ausländischer Imperialisten vorbereitet. In dem Fall, daß es zu einer solchen Intervention ausländischer Imperialisten kommt, steht man vor anderen Aufgaben, herrschen andere Widersprüche, auf deren Wechsel man sich einrichten muß. Dann steht in dem Moment die Aufgabe auch der eigenen Verteidigung an. Nur so konnte prinzipiell richtig herangegangen werden.
[1] Es handelt sich bei dem Abkommen von Compiègne objektiv nicht um ein Waffenstillstandsabkommen, sondern um die faktische vollständige Kapitulation, denn nach Erfüllung der Punkte war eine Fortführung des Krieges nicht einmal im unmittelbar defensiven Sinne mehr möglich.
[2] Man gewinnt überhaupt den Eindruck, daß im Vorfeld dieses Abkommens schon Besprechungen über diesen „Waffenstillstand“ stattgefunden haben, etwa über die Botschaften neutraler Staaten oder über die Bankverbindungen von in Deutschland und in den USA positionierten Banken. Der deutsche Verhandlungsführer Erzberger (Zentrumspartei) hätte normalerweise äußerst überrascht reagieren müssen über derartige Bedingungen. Dies hielt sich aber in Grenzen. Auch wurden seine telegraphischen Rückfragen bei der deutschen militärischen Leitung sehr schnell mit „anerkennen“ beantwortet. Bei der Tragweite dieses Abkommens ist das erstaunlich. Alles spricht dafür, daß zumindest die ungefähren Konditionen in den Wochen zuvor bereits abgesteckt worden sind. Erzberger versuchte kurz, mit „Gefahr“ einer Revolution in Deutschland zu spielen, um den westlichen Alliierten damit zu drohen, aber das verfing überhaupt nicht. Der Verhandlungsführer Marschall Foch von der französischen Seite war darüber gut informiert. Die gemeinsame Unterdrückung der proletarischen Revolution in Deutschland war für diese Kräfte bereits ausgemacht. Und die deutsche Bourgeoisie und Regierung waren in dieser Hinsicht zum äußersten bereit, natürlich darauf rechnend, daß sie im Laufe der Zeit wieder Bewegungsspielraum bekommen. Die doppelte Unterdrückung dieses Landes aber zeichnete sich mit diesem Abkommen offiziell ab und wurde zum beherrschenden Moment für eine lange Zeit.
[3] Marx und Engels haben sich ausführlichst mit diesen Vorgängen befaßt, fast ihr ganzes Leben lang. Unter anderem: „Revolution und Konterrevolution in Deutschland“ in Marx Engels Werke, MEW Bd. 8
[4] Siehe hierzu Marx Engels Werke, MEW, Bd. 16 und 17
[5] Siehe „Die Rolle der Gewalt in der Geschichte“, ein größeres Fragment von Friedrich Engels, das auch unter dem Titel „Gewalt und Ökonomie bei der Herstellung des deutschen Reiches“ verbreitet wurde. In MEW, Bd.21, S.405 ff
[6] Hier ist an erster Stelle das Buch „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ zu nennen, u.a. in Lenin Werke, LW Bd. 22, S.191ff, geschrieben 1916, zuerst veröffentlicht Mitte 1917
[7] „Sehr rasch
zeigte sich, daß das in feudalen Traditionen erstarrte und innerlich
morsche Spanien der überlegenen Kraft der USA in keiner Weise gewachsen
war. Sofort witterten die deutschen lmperialisten die Möglichkeit,
die spanische Niederlage auszunutzen, ’Seine Majestät der Kaiser erachtet
es für eine Hauptaufgabe der deutschen Politik, keine infolge des
spanisch-amerikanischen Konfliktes sich etwa bietende Gelegenheit
zur Erwerbung maritimer Stützpunkte in Ostasien unbenutzt zu lassen’,
telegrafierte Bülow dem deutschen Gesandten in Washington, v. Holleben,
am 1. Juli 1898.Um die Bestrebungen der deutschen Flotten- und Kolonialkreise
zum Erwerb eines möglichst großen Teils des spanischen Kolonialbesitzes
im Pazifik und im Fernen Osten zu unterstreichen, wurde ein Flottengeschwader
nach Manila entsandt. Dieser militärische Vorstoß nach den Philippinen,
die die USA bereits okkupiert hatten und auf jeden Fall für sich beanspruchten,
barg die Gefahr eines kriegerischen Konflikts mit den USA in sich,
den Deutschland freilich mit seinen geringen Seestreitkräften ernsthaft
nicht wagen konnte. So mußte die deutsche Regierung vor der entschlossenen
Haltung der USA schließlich zurückweichen, ihre Absichten auf neuen
Kolonialerwerb auf den Philippinen aufgeben und sich mit weit weniger
wertvollen Teilen der spanischen Besitzungen begnügen. Spanien wurde
im Vertrag mit Deutschland vom 12. Februar 1899 gezwungen, die Karolinen-,
Palau- und Marianeninseln gegen eine finanzielle Entschädigung von
17 Millionen Mark Deutschland zu überlassen.“
[8] Vergleiche hierzu zum Beispiel die obengenannte Darstellung von Fritz Klein, „Deutschland 1897/98-1917“, in der dies folgendermaßen beschrieben wird:
„Am 14.November 1899
wurde der deutsch-englische Samoa-Vertrag unterzeichnet und am 2.Dezember
durch ein deutsch-englisches-amerikanisches Abkommen ergänzt. Die
Verträge hoben das Tridominat über Samoa auf. Die Inseln wurden zwischen
Deutschland und den USA geteilt, während England gegen einige Kompensation
auf einen Anteil verzichtete.
[9] Es muß in diesem Zusammenhang an die Schrift W.I.Lenins „Staat und Revolution“ (1917) erinnert werden, in dem diese Verbindung zu dem Element der marxistischen Staatslehre wieder hergestellt wird. Sie kommt bei Lenin nach der Auseinandersetzung mit den opportunistischen Strömungen in der europäischen Sozialdemokratie und den Erfahrungen des 1.Weltkrieges. Es ist aber zu untersuchen, inwieweit sich die Schwäche nicht deutlich vorher zeigte. Denn der Glaube, man könne gegen ein solches Pulverfaß wie die Lage in Europa mit Demonstrationen und Manifesten agieren, ist eine Kinderei. Das gilt auch für die linke Sozialdemokratie.
[10] Siehe Lenin Werke, Bd. 24, S. 43
[11] „Alldeutscher“
Verband 1891-1939. Ultrarechte Organisation mit ausgesprochen provokativen
Charakter, zur Anstachelung reaktionärster Absichten im eigenen Land
sowie nicht zuletzt auf internationaler Ebene. Diese Organisation
hatte nur eine geringe Mitgliederzahl und erlangte nie die Bedeutung,
um eine Partei überhaupt nur zu gründen.
[12] Siehe MEW Bd. 19, „Zur Kritik des Gothaer Programms“, und damit zusammenhängende Texte.
[13] Wilhelm
Liebknecht, 1826 bis 1900. Einer der entscheidenden Mittelsmänner
von Karl Marx und Friedrich Engels in Deutschland und ein bedeutsamer
Organisator der Partei. Zugleich sucht er, wenn auch in anderer Weise
als Lassalle und seine Nachfolger, die Verbindung zu den überholten
aristokratischen Eliten im Land. Marx und Engels werfen ihm gelegentlich
„Österreicherei“, die Verbindung zu den Klein- und Mittelfürsten im
Land vor, die in Opposition zu den preußischen Machtgelüsten in Deutschland
standen.
[14] Die Bezeichnung ‚Marxismus’ setzte sich erst später durch.
[15] Vergleiche Lenin, „Das Militärprogramm der proletarischen Revolution“, LW Bd. 23, S.72-83, oder „Über die Losung der Entwaffnung“ ebenda, S. 91-101, beide im Herbst 1916 geschrieben.
[16] Lassalleanismus – Richtung benannt nach Ferdinand Lassalle, 1825 – 1864, ursprünglich auch ein Teilnehmer der Revolution nach 1848. Er wirkte zu Anfang der 60er Jahre bei der Schaffung der ersten größeren Arbeiterorganisationen (ADAV, Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein) mit und wurde ihr erster Präsident. Er zeichnete sich in der Politik durch den deutlichen Hang aus, die Arbeiterbewegung mit den überkommenen herrschenden Klassen des früheren Feudalismus, insbesondere mit Bismarck als Vertreter der preußischen Monarchie, zu verknüpfen. Seine Nachfolger setzten diese Politik fort, die Arbeiterbewegung faktisch zu einem politischen Standbein einer etwas demokratisch erneuerten „Volksmonarchie“ zu funktionalisieren. Der Lassalleanismus wurde in der späteren Sozialdemokratie entschieden zu wenig kritisiert, auch von der beginnenden kommunistischen Bewegung, einschließlich der russischen Bolschewiki.
[17] Nicht umsonst
mußte sich Engels 1895 noch mit den Machenschaften bei der Neuherausgabe
des Buches von Karl Marx über die Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850
herumschlagen, als die Führer der Sozialdemokratie ihn, diesen alten
Vorkämpfer der Revolution, in einen Pazifisten umdichten wollten.
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