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Statement 2004-14
Überlegungen zu
den Anschlägen von Madrid
Die politische Analyse der Anschläge von Madrid ist
bei dem gegenwärtigen Stand der allgemein zugänglichen Informationen
noch schwierig. Soweit mir
Stellungnahmen linker Organisationen und Autoren bekannt sind, finde
ich die Ergebnisse unbefriedigend; was in den bürgerlichen Medien
verlautet wird, ist ausgesprochen flach und zeigt sogar eher einen
Unwillen, ernsthaft zu analysieren. Das dürfte seine politischen Hintergründe
haben. Im Folgenden möchte ich einige Überlegungen vorbringen, die
bei der Auseinandersetzung mit den Anschlägen und dem, was dazu verlautbart
wird, entstanden sind. Ich hoffe, daß sie zur politischen Aufklärung
der Verantwortlichkeiten beitragen.
In Madrid gab es ein gezieltes Massaker an Menschen
aus der Arbeiterbevölkerung und damit verbundenen Schichten mit dem
Ziel möglichst großer Blutopfer. Die extreme Klassenbrutalität der
Urheber der Anschläge ist ein grundsätzlicher Fingerzeig. Sie
weist darauf, welche gesellschaftlichen Spannungen in der heutigen
politischen Situation die wirklich bestimmende Rolle spielen. Das
politische Leben Spaniens war in den Wochen und Monaten zuvor von
bedeutenden Streiks und Demonstrationen, z.B. der Werftarbeiter und
der Studenten, geprägt worden. In Madrid waren am
6. März 20.000 streikende Werftarbeiter aus vielen Regionen
Spaniens, dem Süden, dem Baskenland und von anderen Standorten zu
einem Kampftag zusammengekommen. Vor kurzem hatte eine große Demonstration
von 100.000 Studenten gegen den Bildungsabbau stattgefunden. Bereits
im Jahre 2003 hatten in Spanien nicht nur
Millionen mit Demonstrationen gegen den Irak-Krieg und die
Beteiligung ihrer Regierung die Mehrheitsmeinung ausgedrückt, es hatte
auch in 2002 einen Generalstreik mit 8 Millionen Beteiligten gegeben.
Die wirtschaftliche Entwicklung war gerade in der letzten Zeit immer
negativer geworden, die Arbeitslosigkeit steigt, weitere soziale Auseinandersetzungen
stehen in Spanien an, nicht anders als in den anderen europäischen
Ländern.
Es ist kein Zufall, daß die Menschen aus den Schichten,
die diese Bewegungen tragen, von den Anschlägen getroffen wurden:
Arbeiter und Dienstleister, Schüler und Studenten, die ärmeren Teile
der arbeitenden Bevölkerung einer modernen Metropole, die im übrigen
stark internationalisiert ist. .
Dies gibt Hinweise auf das mentale, das kulturelle
und politische Profil der Urheber. Die Behauptung, es seien islamisch-fundamentalistische
Kräfte als unmittelbare Täter beteiligt, hat von daher viel für sich.
Es muß aber auch die Frage nach möglichen politischen Hintergrundkräften
in den bürgerlichen Systemen selbst gestellt werden.
Ich möchte nun im weiteren versuchen, der politischen
Analyse der Anschläge und ihrer Folgen näherzukommen, indem ich mich
kritisch mit einigen Behauptungen auseinandersetze, die dazu öffentlich
gemacht werden. Ein besonders interessantes Beispiel, wie die Sache
nicht angegangen werden sollte, und was es an gefährlich danebenliegenden
politischen Schlußfolgerungen geben kann, bietet ein Artikel von Knut
Mellenthin, der am 15.3.04 .in der „Junge
Welt“ veröffentlicht wurde, die in anderen Artikeln allerdings
wertvolle Informationen aus Spanien bringt. In der Auseinandersetzung
mit diesem Artikel bietet sich Gelegenheit, sich auch mit anderen
Ansichten über die Anschläge zu befassen.
Mellenthin ordnet die Anschläge in ein politisches
Szenario ein, das er von dem US-Reaktionär Huntington (Autor des Pamphlets
„Clash of Civilisations“) entlehnt. Er schreibt als Fazit seines Artikels:
„Es ist zu befürchten, daß die Attentate auf Züge in Madrid
der Beginn einer analogen Strategiesind und daß weitere Anschläge vom
selben Typ, gegen ‚normale’ Menschenansammlungen in Zügen, Kaufhäusern,
Einkaufsstraßen auch in anderen Ländern Europas folgen werden. Denn
niemand außer den Propagandisten eines ‚Vierten Weltkriegs’ gegen
die islamischen Länder und Völker, eines ‚Zusammenpralls der Zivilisationen’
(Samuel P. Huntington), kann aus Mordtaten wie jetzt in Madrid politischen
Vorteil ziehen. ‚Cui bono?’, wem nützt es: Das allein ist niemals
ein Beweis für eine Tathypothese. Aber es kann ein Hinweis sein, der
nicht übersehen werden sollte."
Wertvoll hieran ist die Grundeinstellung, solche
massiven reaktionären Terroranschläge mit ihren politischen Auswirkungen
nicht unabhängig von gewissen Machenschaften in den Staatsapparaten
der imperialistischen und kapitalistischen Staaten zu analysieren.
Zu diesen Fragen gibt es schon seit langem von meiner Organisation,
der Gruppe Neue Einheit, wie auch von anderen, Darlegungen
. Von dieser Grundlage gehe ich auch hier im weiteren aus.
Mellenthins konkrete Sicht der Hintergründe des Anschlags
von Madrid muß aber kritisiert werden.
Wer es in
seiner Sicht genau ist, der einen IV. Weltkrieg dieser Art propagiert,
geht aus dem Artikel nicht hervor. Huntington als ein einzelner oberflächlicher,
dreister US-imperialistischer Autor kann allein nicht gemeint sein,
sondern es müßte eine politische Gruppierung von ähnlicher Ideologie
sein, ausgestattet mit erheblichen Machtmitteln, wenn man einer solchen
politischen Annahme folgen wollte. Es wäre - nach Huntington - eine
politische Kraft, die unter dem Etikett „Westen“ versuchen würde,
eine Einheit zusammen zu kleistern, die die USA und die west- und
mitteleuropäischen Staaten, die sich mit den USA verbünden, umfaßt,
und vielleicht noch die eine oder andere Macht wie Japan; diese würden
die eine Seite des sog. IV. Weltkriegs bilden. Zu den islamischen
Ländern wären bspw. Iran, Pakistan, die arabisch geprägte Welt von
Nordwestafrika bis Oman, ferner Bangla Desh und Indonesien usw. zu
rechnen.
Von Huntington oder von den Klassengegensätzen ausgehen?
Der umfassende imperialistische Block, der in der
Lage wäre, einen Generalangriff auf „die islamischen Länder“, eine
Gesamtheit von über einer Milliarde Menschen und riesigen Territorien,
ins Auge zu fassen, ja für den das überhaupt Sinn machen würde, hat
jedoch weitgehend utopischen Charakter, und deshalb muß man fragen,
warum Mellenthin die Propagandisten von etwas Derartigem zum Angelpunkt seiner
Analyse und politischen Schlußfolgerungen macht. Der Angriff auf den
Irak bspw. hat ja die USA nicht etwa zum Haupt eines ähnlichen Blocks
gemacht, wie sie das angestrebt hatten, sondern isoliert wie nie zuvor,
und er zehrt nun an ihren Kräften, obwohl Irak ein relativ kleines
und schon zuvor sehr geschwächtes Land ist.
Kriege muß man konkret analysieren. Wir haben in
der heutigen Welt mehrere kapitalistisch-imperialistische Machtzentren
bzw. werdende oder mögliche Machtzentren. Zu nennen sind natürlich
die USA, dann europäische Länder, die einen stärkeren Zusammenschluß
anstreben, aber ihn gerade auf der miltärisch-politischen Ebene noch
keineswegs realisiert haben, China, in der weiteren Perspektive auch Indien
und andere. Alle basieren auf der Ausbeutung der Lohnarbeit, die weltweit
eine immer größere Rolle einnimmt, und sind dem inneren und dem internationalen
Klassengegensatz mit dem international wachsenden Proletariat ausgesetzt;
sie konkurrieren und rivalisieren außerdem untereinander als kapitalistische
Mächte und - jedenfalls trifft das derzeit für die USA, Japan und
EU-Staaten zu - auch als internationale
Ausbeuter von Rohstoffen, Finanzmärkten etc. Die progressive Politik
steht auf seiten des internationalen Proletariats und bemüht sich
um dessen Organisierung, sie nutzt die imperialistischen Gegensätze
in der Taktik. Die weitere Intensivierung dieser Gegensätze ist im
Gange, eine aggressive imperialistische Blockbildung der USA mit „Europa“,
Japan etc. ist gerade heute ziemlich unwahrscheinlich. Die Kriegspolitik
der verschiedenen imperialistischen und kapitalistischen Staaten zielt
darauf, sich gegenüber schwachen Ländern, aber vor allem auch gegeneinander
durchzusetzen. Dabei sind Bündnisse zwischen solchen Staaten gegen
andere natürlich nicht ausgeschlossen, ein solcher „westlicher“ Block
aber wäre eine andere Qualität.
Eine ganz wichtige Komponente der imperialistischen
Kriegspolitik ist, die Entwicklung
der Arbeiterbewegung im eigenen Land und als internationale Bewegung
zu verhindern.
Unter diesen Bedingungen gibt es noch und noch Widersprüche,
die alle in ihrer konkreten Ausprägung je nach Kriegsfall analysiert
werden müssten und natürlich auch im vorliegenden Fall eine Rolle
spielen.
Von solchen Grundfakten her muß eine progressive
Politik ihre politischen Analysen und ihre Stellungen zu konkreten
Kriegen bestimmen
Wenn Mellenthin geschrieben hätte: diese Propagandisten
versuchen die Bevölkerungen aufzuhetzen für Kriege gegen islamische
Länder, um von den Klassenauseinandersetzungen in ihren eigenen Ländern
und weltweit abzulenken, um mit Weltkriegshysterie zu unterlaufen,
was politisch ansteht: die internationale Arbeitersolidarität zu organisieren; um auch den Kampf gegen die theokratische Reaktion
in islamischen Ländern zu unterlaufen - dann hätte er die richtige Spur aufgenommen. Aber er blendet diese
Kategorien aus, er macht sich die Sicht selbst zueigen, wir würden
auf einen Zivilisationskrieg eines imperialistischen Blocks gegen
einen islamischen Block hingesteuert.
Sollen Linke den Islam verteidigen?
Die politischen Schlußfolgerung, die Mellenthin für
die Linke suggeriert, sind denn auch demnach. Sollen wir uns etwa
in einer Einheitsfront zur Verteidigung der islamischen Zivilisation
wiederfinden? Einer theokratischen Zivilisation mit dem Grundkennzeichen,
daß es dort bisher aufgrund barbarischer Repression und allgemeiner
kultureller Rückständigkeit nicht gelingt, Bewegungsfreiheit und Rechte
für die Arbeiterbewegung zu erkämpfen, daß es nicht einmal, mit geringen
Ausnahmen, gelingt, überhaupt eine moderne kapitalistische Produktion
aufzuziehen, sodaß sich ein größeres modernes Proletariat bilden würde?
Einer Zivilisation, die erst recht für Sozialisten und Marxisten von
vornherein den Galgen bereithält? Die in einer rabiaten Weise wie
sonst keine die weibliche Hälfte der Menschheit von vornherein für
zweitklassig erklärt, und jeder tieferforschenden Rationalität den
Kampf angesagt hat? Diese Zivilisation wird durch die gesamte moderne
Entwicklung der Welt angeschlagen, sie haßt die Einflüsse der modernen
Gesellschaft, u.a. auch die Annäherung ihrer eigenen zahlreichen Auswanderer
mit den Arbeitern moderner Länder, was in Spanien eine große Rolle
spielt, und in ihrem reaktionären Fanatismus hat die Vorstellung des
Blutbads an der modernen Zivilisation in der Tat einen Platz.
Es gibt Tendenzen der Verharmlosung der reaktionären
Züge dieser islamischen Zivilisation nicht nur unter traditionellen
Ultrarechten im Westen, sondern leider auch unter Linken, und in gewisser
Weise kulminieren bisherige Fehlentwicklungen, die ungenügende Absetzung
von bestimmten Formen der bürgerlichen und vorbürgerlichen Reaktion,
unter denen die linke Bewegung schon lange leidet und die wir oft
kritisiert haben, in solchen pro-islamistischen Tendenzen Sollten sie dominant werden, wäre das der
endgültige Übergang zur Unterstützung bestimmter Formen von Ultrareaktion,
und auch zur Liquidierung von dessen „linken“ Trägern.
Huntington repräsentiert eine Propaganda, in der
Kolonialkriege und die angestrebte militaristische Weltdiktatur, mit
der die USA ihre imperialistische Ausplünderung der Welt retten wollen,
als zivilisatorische Mission gegen bestimmte Züge der islamischen
Reaktion maskiert werden. Dem entspricht die Propaganda islamistischer
Fundamentalisten, die ihre theokratischen Schweineregime als die von
den „Kreuzfahrern“ immer wieder attackierten Paradiese der Rechtschaffenheit
zu mobilisieren gedenken. Die eine Form der Reaktion ist dabei faktisch
eng mit der anderen verzahnt.
Erfreulicherweise sitzen weder die USA noch die islamischen
theokratischen Kräfte sonderlich fest im Sattel, und die Chancen,
daß es so läuft, wie das hier vorgestellt wird, sind nicht besonders
groß.
Hypothesen über die beteiligten Kräfte
Das heißt, nebenbei bemerkt, nicht, daß nicht imperialistische
Kreise mit Ansichten wie Huntington an den Anschlägen interessiert
oder vielleicht sogar im Hintergrund beteiligt waren. Das liegt im
Bereich der Hypothesen, die verfolgt werden müssen, und insofern kann
die Darlegung von Mellenthin als ein möglicherweise nützlicher Hinweis
unter anderen betrachtet werden.
Solche Kräfte verspekulieren sich allerdings nicht selten.
Die Anschläge haben ja in Spanien zunächst einmal dazu beigetragen,
daß die Formierung um den imperialistische Kern USA einen Rückschlag
erleidet. Das spanische Volk war von vornherein Gegner der Aznarpolitik,
mit den USA gegen den Irak zu ziehen, und hatte das mit Demonstrationen
bekundet, die zu den größten weltweit im Februar 2003 gehörten. Diese
Tendenz hat sich jetzt auch im Rahmen der bürgerlichen Wahl artikuliert.
Sollten mitwirkende oder gar lenkende Hände bei den Anschlägen im
Spiel gewesen sein in dem Sinne, daß hier ein direkter Bundesgenosse
der Bush-Richtung bei der
Wahl stabilisiert werden sollte, dann wäre dies nach hinten losgegangen.
Diese Hypothese ist allerdings meiner Meinung nach
nicht die einzige mögliche. In den USA wird derzeit die Demokratische
Partei wieder höher gehandelt, weil die Bush-Gruppe einigermaßen in
der Sackgasse angekommen ist, d.h. der Imperialismus soll wieder ein
friedlicheres und demokratischeres Aussehen annehmen, um die weltweite
Ausbeutung und Kontrolle mit realen oder scheinbaren Konzessionen,
mit einer anderen Art der Demagogie weiterführen zu können. Die spektakuläre
Blamage der Aznar-Regierung als eines Kronzeugen des Bushismus, daß
dieser mit seiner Politik international nicht allein stehe, muß dieser
anderen Richtung Auftrieb verschaffen. Es war der Präsident von der
Demokratischen. Partei, Carter (1977-1981), unter dem die USA wesentlich
den Aufbau der internationalen islamistischen Terroristenorganisationen
in Angriff genommen haben; fortgesetzt wurde das nicht nur unter Reagan,
sondern auch unter Clinton, es wäre also falsch
anzunehmen, daß solche connections nur bei den Bushisten vorkämen,
über die in dieser Beziehung in der Tat viel vorliegt.
Es sind bisher im wesentlichen drei Täter-Hypothesen,
die seit dem 11.03. 04 öffentlich kursieren, die ETA-, die Al-Kaida-
und die Gladio-Hypothese. Die wichtigste Besonderheit der Anschläge
von Madrid, daß es sich um ein Massaker ganz gezielt an der Arbeiterbevölkerung
handelt und auch von daher Überlegungen anzustellen sind, spielt im
allgemeinen und auch für den „Junge-Welt“-Artikel kaum eine Rolle,
obwohl dies sofort nach den Anschlägen von uns und von mehreren
spanischen Organisationen hervorgehoben worden ist.
Zur Frage ETA-Hypothese vs. Al-Kaida-Hypothese
Die ETA-Hypothese
ist inzwischen mitsamt der Aznar-Clique zum allgemeinen Prügelknaben
deutscher Medien geworden. Die ETA-Hypothese ist jedoch nicht von
vornherein indiskutabel. Auch wenn die spanische Regierung offenbar
mit Fehlinformationen bezüglich ETA gearbeitet hat, ist ETA doch
schon lange ein Gebilde, das Fragen auslöst, die sich auf mögliche
politische Übereinstimmungen mit ganz schwarzen Kreisen der spanischen
und auch der internationalen Politik beziehen. Ob ihre Handlungen
überhaupt essentiell von ihren vorgeblichen politischen Zielen her,
der Schimäre einer sog. baskischen nationalen Unabhängigkeit, bestimmt
werden, was schon zerstörerisch genug wäre, oder nicht vielmehr sogar
Merkmale der Instrumentalisierung durch reaktionärste Kreise des Kapitalismus
und Imperialismus zeigen, kann man begründet fragen. Was ist eigentlich
vom politischen Profil, ja schon vom Programm her eigentlich die ETA?
Diese Frage möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich denjenigen linken
Org. stellen, die immer mal wieder etwas von „antikapitalistischer“
Organisation murmeln, was ein völlig vager Begriff ist, der auch Rechtes
einschließen kann, oder von „Übernahme sozialistischer Elemente“ usf.,
und offenbar davon ausgehen, daß es sich unter dem Strich um eine
progressive, sogar eine linke Org. handelt. Die ETA-Anschläge hatten
jedoch schon immer die Funktion, vom Klassenkampf abzulenken und die
Erhaltung von politischen und polizeilichen Repressivelementen der
Franco-Zeit bzw. deren Modernisierung zu rechtfertigen, und die ETA-Politik
selbst war anscheinend nie in der Lage, diese Funktionalisierung zu
durchbrechen - wenn das überhaupt je ernsthaft gewollt war.
Solche Phänomene wie ETA eignen sich prinzipiell auch immer als Instrumente
für den CIA und ähnliche Kräfte, wenn es ihnen darum geht, der Regierung
eines anderen Landes Schwierigkeiten zu machen und sie zu erpressen.
Als Gegenbeweis gegen die Vermutung einer jetzigen
Beteiligung von ETA wurde bspw. angeführt, daß ETA bei ihren Anschlägen
andere Zünder benutzt. Eine solche Erörterung ist ja wohl nicht ganz
ernstzunehmen. Wenn ein bestimmter Beamter einmal sagt, es waren ETA-Zünder,
und ein anderer Beamte dementiert dies, dann ist nicht automatisch
gegeben, daß der zweite Beamte im Recht ist. Er kann vielmehr ebenso
seinen Part in einem Vernebelungsmanövers spielen wie der andere.
Auch daß Persönlichkeiten, die der ETA nahestehen sollen, öffentlich
sich gegen die Anschläge und eine Beteiligung der ETA erklären, ist
nicht unbedingt ein Gegenbeweis.
Nehmen wir doch einmal folgende Hypothese: bestimmten
europäischen Mächten ist schon seit langem die Aznar-Clique ein Dorn
im Auge, genannt werden ihre Unterstützung für die USA gegen Frankreich
und Deutschland im Irak-Krieg und ihre Obstruktion, ebenfalls gegen
Deutschland und Frankreich, in Fragen der EU-Verfassung, und von daher
starten geheimdienstliche Kräfte ein Manöver im Zusammenhang mit den
Wahlen, das sie zu Fall bringen soll. Vielleicht hat man so kalkuliert:
ein schwerer Anschlag, über dessen Vorbereitung man bereits untergründige
Kenntnisse hat, wird kurz vor der Wahl stattfinden und von den Aznar-Leuten
sicher der ETA in die Schuhe geschoben werden, vielleicht kann man
dabei sogar etwas nachhelfen, indem tatsächlich ETA-Elemente beigemischt
werden; dann aber läßt man rechtzeitig vor der Wahl mit überlegener
internationaler Medienmacht die Korrektur durchführen, daß es Islamisten
gewesen seien und blamiert Aznar in der Weise, wie es nun offenbar
tatsächlich geschehen ist. In der Tat spricht das Massaker für eine
fanatisch reaktionäre Mentalität von größter Primitivität bei den
Urhebern, wie sie gerade den islamischen Fundamentalismus kennzeichnet.
Große Teile der Wähler akzeptieren nicht, von der Regierung derart
belogen zu werden, und wählen die Opposition; Spanien macht dadurch
einen außenpolitischen Schwenk weg von den USA und gibt auch innerhalb
der EU die Obstruktion gegen bestimmte Verfassungspläne auf.
Die derzeitige Zufriedenheit der hiesigen bürgerlichen
Medien mit diesem Wahlausgang und die einmütige Verurteilung der Aznar-Regierung
wirken zu glatt und zu einhellig, als daß man nicht Verdacht schöpfen
müßte, daß da in Wirklichkeit noch einiges aufzudecken ist. Im übrigen
ist dadurch überhaupt keins der sozialen Probleme Spaniens einer Lösung
näher, und die Frage, wie der islamistische Terror, den man jetzt
allein als den Schuldigen identifiziert, ohne nach Kräften im Hintergrund
zu fragen, zukünftig in Schach gehalten werden soll, ebenfalls nicht.
Was spricht grundsätzlich dagegen, daß diese oder
eine ähnliche Intrige möglich ist? Sollte man etwa denken: „unsere“
Imperialisten machen so etwas nicht? Und welche Rolle spielen die
bereits erwähnten Bestrebungen eines Regierungswechsels in den USA?
In seltener Direktheit forderte der Wahlsieger Zapatero unmittelbar
nach der Wahl die Bevölkerung der USA auf, Bush loszuwerden. In den
USA selbst tritt jetzt bspw. ein Top-Geheimdienstler, der bisher einer
der engsten Mitarbeiter von Bush war, Richard Clarke, gegen die Irak-Politik
der Bush-Regierung auf und nimmt im Grunde an dessen Demontage teil.
In CBS heißt es am 22.03.04 u.a.:
"Frankly,"
he said, "I find it outrageous that the president is running
for re-election on the grounds that he's done such great things about
terrorism. He ignored it. He ignored terrorism for months, when maybe
we could have done something to stop 9/11. Maybe. We'll never know."
Clarke
went on to say, "I think he's done a terrible job on the
war against terrorism."
Es wäre naiv, die Bedeutung solcher Entwicklungen
auch hinsichtlich der Vorgänge in Spanien zu leugnen. Wir schätzen
die Opposition gegen den US-Kriegskurs, die hauptsächlich von Deutschland
und Frankreich geleistet wurde, durchaus und haben sie öffentlich
gegenüber gewissen „Linken“ verteidigt; aber Illusionen, die Fähigkeit
zur blutigen massenfeindlichen Intrige gebe es nur jenseits des Atlantik
und dort nur bei der offen rechten Seite, sind nicht unsere Sache.
Man muß sehen, daß die verschiedenen Spielarten der Politik des imperialistischen
Kapitalismus alle äußerst empfindlich gegenüber der aufkommenden Arbeiterbewegung
und demokratischen Bewegungen sind.
Den islamistischen Terror nicht verharmlosen!
Nach einigen Bemerkungen über ETA verfolgt Mellenthin dann im zweiten Abschnitt die „islamische Spur“
(die Zwischenüberschrift in der „Junge Welt“: „Spanische Spur“, ist
ein lapsus). Die Essenz seiner Ausführungen geht dahin, daß von der
islamistischen terroristischen Bedrohung zwar viel geredet werde,
manche Gruppen aber mehr oder weniger Fantasiegebilde der westlichen
Medien seien, und Al-Kaida, weitgehend zerschlagen, jedenfalls keine
große Gefahr mehr darstelle.
„Es
ist zu bezweifeln, ob es ‚Al Qaida’ in diesem Sinn [als „zentral gelenktes
Netzwerk..., das einer einheitlichen Strategie folgt, Anschläge plant
und anordnet, und das über riesige finanzielle Mittel verfügt, die
es weltweit an seine Agenten verteilt.“] überhaupt je gegeben hat.
Ganz sicher ist das, was es jemals an Strukturen gegeben haben könnte,
inzwischen zerschlagen und aufgelöst.“
Weiter geht es mit Darlegungen wie z.B., daß Al-Kaida
als weltweite Kommando- und Finanzzentrale ein Produkt des Feindbild-Bedarfs
der „Mehrheit der Medien und Politiker“ sei., und daß die Urheberschaft
des Anschlags von Madrid bei Islamisten zu suchen überhaupt unlogisch
sei:
„Wenn Islamisten es für zweckmäßig gehalten
hätten, in Europa Bomben in Züge oder auch, wie ihnen als Absicht
immer wieder unterstellt wird, in Einkaufsstraßen zu plazieren, hätten
sie es schon längst getan...“
Diese Verharmlosung des islamistisch-terroristischen
Angriffs auf die moderne Gesellschaft, die die revolutionären Klassen
und Ideen gebiert, wird auf Autoren, die so und
ähnlich herumreden, zurückfallen. Wenn eine spezielle Organisation
dieser couleur, hier die Al-Kaida, nicht mehr oder kaum noch existieren
sollte, veschwinden damit doch in keiner Weise diese Tendenz und ihre
Machenschaften.
Wenn wir, wie ähnlich auch andere, feststellen, daß
diese Strömung vom Imperialismus instrumentalisiert wird, dann ist das etwas Anderes als ihre Verniedlichung,
die hier versucht wird. Der
islamistische Terrorismus ist kein Medienkonstrukt, sondern Tatsache,
wie sehr auch fallweise Medien versuchen, daraus Kapital zu schlagen.
Er ist auch ein unvermeidliches Produkt des jahrhundertelangen reaktionären
Griffs des Islam auf die Länder, nicht bloß eine mediale Anstachelung
von heute. Wer versucht, die Steinigung als Strafrecht zu reetablieren,
wer es in Angriff nimmt, die barbarische Theokratie anderen, höherstehenden
Zivilisationen aufzuoktroyieren, wer die progressive Mehrheit der
Menschheit als den eigentlichen Feind sieht, ist der größten faschistischen
Verbrechen fähig. Der absolut niedrige Charakter der Anschläge von
Madrid, die Absicht möglichst viele Arbeiter und andere Angehörige
der unteren Volksschichten eines modernen Landes zu eliminieren, verweist
sogar ganz massiv auf derartige Kreise. Es ist daher sogar nicht ausgeschlossen,
daß das Verbrechen von Madrid von solchen Kreisen alleine ausgeheckt
und durchgeführt worden ist, allerdings sprechen sehr viele Erfahrungen
mit dem reaktionären Terrorismus überhaupt sowie die konkrete Verknüpfung
mit der sozialen Unruhe, der Wahl und den Fragen der außenpolitischen
Orientierung Spaniens dafür, daß bürgerliche Kräfte nicht unbeteiligt
sind.
Faschisten vom Typ NATO-Gladio
Schließlich muß man noch auf den Komplex zu sprechen
kommen, der mit „Strategie der Spannung“, Anschlägen wie dem auf den
Bahnhof von Bologna 1980 mit 85 Todesopfern und der „Gladio“-Verschwörung
innerhalb der NATO umrissen wird. Es heißt in dem Artikel:
„Nicht nur die Linke, sondern alle
Demokraten Italiens sprachen damals von der »Strategie der Spannung«,
die keineswegs nur Attentate auf Züge umfaßte. Die Täter und deren
Helfer, soweit sie überhaupt ermittelt und rechtskräftig verurteilt
wurden, waren Faschisten. Aber ihre Verbrechen hatten einen sehr viel
weiter gehenden Hintergrund in einer Bürgerkriegs- und Staatsstreichstrategie,
hinter der einflußreiche Kräfte im Militärapparat, in der Polizei,
in den Geheimdiensten, in der Christdemokratischen und in der Rechtssozialdemokratischen
Partei sowie NATO-Kreise und die CIA standen. Kurz gesagt, ging es
darum, Italien, in dem damals die Kommunistische Partei immer stärker
wurde, für eine totalitäre Herrschaft der »starken Hand« reif zu terrorisieren.
Begonnen hatte die »Strategie der
Spannung« am 12. Dezember 1969 mit einem Bombenanschlag auf die Schalterhalle
der Mailänder Landwirtschaftsbank an der Piazza Fontana, gezielt während
der stärksten Geschäftstätigkeit. Das Ergebnis: 17 Tote, 85 Verletzte.
Mit Bösartigkeit und Sturheit versuchten damals Polizei und rechte
Politiker, das bis dahin beispiellose Verbrechen der Linken in die
Schuhe zu schieben. Man verhaftete Anarchisten, sorgte durch Falschinformationen
für ihre Vorverurteilung in den Medien. Einer der Festgenommenen,
Giuseppe Pinelli, wurde beim Verhör aus dem Fenster des Polizeipräsidiums
gestoßen und starb. »Selbstmord als Schuldeingeständnis«, hieß es
offiziell. Erst autonome Recherchen der radikalen Linken förderten
stückweise zu Tage, daß der Anschlag einen faschistischen Hintergrund
hatte und daß rechtsextreme Kräfte im Polizeiapparat die Ermittlungen
bewußt in die Irre geführt hatten.
Es ist zu befürchten, daß die Attentate
auf Züge in Madrid der Beginn einer analogen Strategie sind ...“
Der Verweis auf die ultrareaktionären Verschwörer europäischer und
US-Herkunft in dem Gladio-Ring innerhalb der NATO gehört in der Tat
hierher. Er wurde von verschiedenen Stimmen in der Diskussion zu Madrid
bereits gemacht und richtigerweise in den Artikel hereingenommen.
Aber hier wird nicht von dem entscheidenden Widerspruch gesprochen,
der solche Scheusale auf der bürgerlichen Seite hervorgebracht hat
und immer wieder hervorbringen wird, die Entwicklung hin zu proletarischem
Klassenkampf und marxistischen revolutionären Organisationen, die
etwa ab 1969 in Italien, aber auch in der BRD, in Frankreich, Belgien
usw. sich damals ankündigte. Immerhin wird die damalige Kommunistische Partei Italiens
als der Grund der Besorgnis der Reaktionäre erwähnt. Das ist jedoch
nur ein schwacher, verkrümmter Reflex der damaligen Wirklichkeit.
Diese Partei stand damals selbst bereits vorwiegend auf der bürgerlichen
Seite, die Verhinderung ihrer Regierungsbeteiligung war nur einer
der Aspekt der Verschwörer, die vor allem die revolutionären Bestrebungen
fürchteten.
Heute muß man damit rechnen, daß Gladio-artige Kräfte, die es natürlich
weiterhin gibt und die sich in der Verschärfung der gesellschaftlichen
Auseinandersetzung neu bilden, sich
auch mit dem islamistischen Terrorismus verbinden, um bestimmte Wirkungen
zu erzielen.
Zusammenfassend:
Der Klassenwiderspruch kann nicht aus der Analyse ausgeklammert werden,
sowohl was das Heute wie was das Gestern betrifft. Dieser Widerspruch
bewegt erneut zunehmend schon seit Jahren die spanische Politik, er
sorgt auch in den anderen europäischen Ländern für manches Anzeichen
von kommender Bewegung, gar nicht zu reden von Zuspitzungen in anderen
Ländern, in denen heute große Teile des Weltproletariats arbeiten,
mit denen gerechnet werden muß. Eine Polarisierung zwischen imperialistischen
Hetzern wie Huntington einerseits, die aber doch nur einen schmalen
Ausschnitt des Spektrums der imperialistischen Politik darstellen,
und der „islamischen Zivilisation“ bzw den islamischen Ländern andererseits
kann nicht die Richtschnur der politischen Analyse sein.
Gegenüber derartigen Sichtweisen sind verschiedene Faktoren festzuhalten,
die allgemein die heutige Realität ganz anders bestimmen. Mit großer
Wahrscheinlichkeit werden sie sich in der Analyse der Anschläge wiederfinden.