Internet Statement 2006-39

 

Die Demonstration am 3. Juni - die Probleme bleiben

11.6.06         

Jeden Tag gibt es in dieser Republik weitere Entlassungen in den großen und mittleren Betrieben, jeden Tag ein paar Dutzend oder Hundert. Der Trend der letzten Jahre kommt nicht zur Ruhe, die Verlagerungen gehen weiter und die Freisetzung wird weiterhin forciert. Ebenso vergeht kaum eine Woche, in der nicht Verschlechterungen für die zahllosen Menschen, die in diesem Lande schon lange keine Arbeit mehr haben, angekündigt und oft innerhalb kurzer Frist durchs Parlament gedrückt werden.
Millionen stehen bereits an der Grenze zur offiziellen Armut. In einem Kontrast dazu  sind die Aktivitäten in den einzelnen Gruppen des sozialen Widerstandes, die sich in den letzten drei Jahren herausgebildet haben, weiter und weiter zusammengeschmolzen. Nur wenige Aktivisten setzen ihre Arbeit fort. Und dies schlägt sich auch in einer Demonstration nieder, wie die letzte vom 3. Juni 2006, für die wochenlang mobilisiert wurde. Trotz der Tatsache, daß unmittelbar davor wesentliche weitere Verschärfungen angekündigt waren, kamen zu dieser Demonstration - die Zahlen sind da sehr umstritten - nicht mehr als 5.000 – 10.000, vermutlich dürften es 6.000 – 8.000 gewesen sein.

Mit den Losungen allein ‚Wir wollen das nicht! Wir fordern Umverteilung. Wir lehnen die Maßnahmen der Verschlechterungen für die ‚Unten’ ab’, kommt man nicht weiter. Man liefert den Leuten keine Perspektive. Hier herrscht eine Diktatur des Kapitals, die jetzt ihre Zähne zeigt und  klar macht, daß sie gar nicht gewillt ist, auf ein paar Proteste einzugehen. Und grad so handeln die großen Parteien in seinem Interesse. Demonstrationen, die die internationalen Zusammenhänge und die vor allen Dingen die Geschichte der letzten drei Jahrzehnte, in denen die ganze heutige Lage angerührt worden ist, umgehen, können letztlich die Menschen nicht motivieren.

Im Jahre 2003 gab es eine große Demonstration, weil eine wirkliche Einheitsfront von unten, von „der Basis“ her und ein beträchtlicher Teil der gewerkschaftlichen Organisationen, einschließlich ihrer Führungen, diese Demonstration unterstützt hatten. So kamen 100.000 zusammen. Aber das war auch eine außergewöhnliche Situation. Das war ein neuer Aufruf. Bei den Diskussionen um den damaligen Aufruf ging es schon um die Frage, wie soll er aussehen. Und man einigte sich auf einen Aufruf ohne jede politische Aussage, der mehr oder minder nur erklärte, „es reicht“ uns nun mit den Verschlechterungen.

Auf diesem Niveau sind die Appelle stehengeblieben. Man fordert einen größeren Anteil vom gesellschaftlichen Kuchen, keine „Umverteilung von Unten nach Oben“ solle mehr stattfinden,  sondern von Oben nach Unten, wie es immer wieder von den Organisatoren heißt. Dabei ist unklar, was eigentlich „Unten“ ist. Denn Unten befinden sich  in dieser Gesellschaft die Millionen und Hunderte von Millionen von Proletariern, die in den Schwitzstuben der großen, neu industrialisierten Länder schuften, die Extraprofite, die sie erarbeiten, speisen auch unsere Gesellschaft. Die großen Kapitalgruppen unseres Landes, wie aller anderen Länder, ringen weltweit um den größten Anteil an dieser Produktion, und müssen sich in diesem Kampf im Wettstreit behaupten. Das liegt im Gesetz dieses Kapitals begründet. Es schlägt uns nicht schlechter Wille irgendwelcher Manager entgegen, obwohl deren Unfähigkeit in der Tat zum Himmel stinkt, sondern die Gesetzmäßigkeiten, denen dieses Kapital selber unterliegt. Sicher wird das nicht mit einem Schlage von heute auf Morgen von größeren Teilen der Bevölkerung angenommen. So etwas kann nur in der Praxis gelernt werden. Aber diese Themen können nicht umgangen werden.


„Französisch aufstehen“ - aber wie?

Es herrschte dieses Mal der Slogan vor: „Mit der Regierung französisch reden“. In Frankreich hat man bewundernd gesehen, wie eine größere Bewegung den Versuch, den Kündigungsschutz der Erstangestellten zu verschlechtern, durch eine breite Massenbewegung verhindert hat. Frankreich ist bekannt dafür, daß es immer wieder breite Massenbewegungen hervorgebracht hat, die im europäischen politischen Leben wichtige Anstöße gegeben haben. Das war seit über 250 Jahren immer wieder so. Aber in dieser Angelegenheit muß auch beachtet werden, Frankreich ist nicht Deutschland. Frankreich hat eine andere nationale Stellung als dieses Land, und eine andere, selbstbewußtere Gesamtstellung in der Welt.
Die meisten sozialen Phänomene unseres Landes gibt es in ähnlicher Form auch in Frankreich - aber in ganz anderen Quantitäten. Es gibt auch dort die Verlagerungen und die Freisetzungen, aber lange nicht in dem Ausmaß wie hier. Der Grad der Deindustrialisierung, der Grad der Freisetzung der Arbeiterklasse ist in Deutschland um ein Vielfaches höher als in Frankreich. Frankreich hatte keine Anti-AKW-Kampagne und keinen  Öko-Idiotismus, der das Land beherrscht. In Deutschland gab es lange Zeit den Slogan „Der Bauplatz muß wieder Weide werden“ - und der Bauplatz ist Weide geworden, um bei dem Vergleich zu bleiben. Und das hat  seine Auswirkungen. In Frankreich gibt es keine Form von Selbstliquidation in großem Umfange, wie sie hier betrieben wird, und  deren Vertreter in der gleichen  Sozialbewegung, die hier protestiert, ihren Einfluß ausüben. Kurzum: In Frankreich gibt es ein ganz anderes Selbstbewußtsein. Und das ist auch die Grundlage, warum es dort viel eher zu solch umfassenden Bewegungen kommt, als hier.
Es gibt eine andere Seite. Frankreich hat auch seine Probleme. Frankreich hat seine koloniale Vergangenheit, Frankreich hat Schichten, die aus dieser kolonialen Vergangenheit her heute ein Bestandteil ihrer Gesellschaft sind und die ihre Forderungen erheben und zum Teil selber neue soziale Problem aufwerfen. Die Unruhen vom letzten November sind allen bekannt. Es stellt sich auch die Frage, ob die neuere französische Bewegung der letzten Monate in diese Schichten ihre Fühler ausgestreckt hatte und dort eine Einflußnahme ausüben konnte. Das ist nicht bekannt. Der Kampf in Frankreich ist auch noch nicht zu Ende. Solche Rechten wie Sarkozy versuchen, mit der sozialen Bewegung  in Verbindung zu kommen, um sich selbst an die Macht hebeln zu lassen. Und wie die Sache dann aussieht, ist eine andere Frage. Von Frankreich lernen – ja. Aber wie? Das ist auch die Frage. Schematisch kann man das nicht, und das wird auch keinen Erfolg haben.

Vielmehr müssen wir bei uns sehen, daß wir mit dem Schutt und dem Schrott, der die asozialen Faktoren so radikal verschärft hat, Schluß machen. Daß wir diejenigen Kräfte, die früher lauthals geschrieen haben „Energiekosten rauf – Arbeitskosten runter“, als direkte Vorbereiter für die heutige Lage sehen müssen. Das wird keineswegs überall getan. Für Viele sind solche Leute mit solchen Losungen noch echte Bündnispartner. Da stimmt etwas nicht.

 

Es gab auf den Kundgebungen vor und nach der Demonstration recht unterschiedliche Reden, auf die sich bei anderer Gelegenheit noch einzugehen lohnt. Unter den interessanten Beiträgen kann man den von Birgit Kühr erwähnen, die in Angermünde eine soziale Initiative leitet, die sich tapfer dem Trend widersetzt. Einem Papier aus dem Internet, das sich mit ihrer Stellung befaßt, kann man folgende Aussage entnehmen:

 „Aber die Bürger haben sich zurückgezogen. Man denkt immer, daß ist jetzt das Schlimmste, dagegen müssen wir was machen. Und dann kommt es noch schlimmer. Das macht die Leute kaputt. Jetzt sitzen sie wieder resigniert in ihren vier Wänden und fressen ihre Wut in sich hinein.“

Das ist sicher nicht nur in Angermünde so, sondern auch an verschiedensten anderen Orten. Die Ostländer hat es bei der Liquidation der Produktion besonders arg getroffen. Obwohl diese Liquidation schon 15 Jahre vor 1989 in der Bundesrepublik begann, wurde die Plattmacherei innerhalb von 2-3 Jahren in der ehemaligen DDR auf die Spitze getrieben. Und damals erzählte das große Kapital: Na ja, wenn wir keine Arbeit für sie haben, dann müssen wir sie eine Zeit lang alimentieren. In der Kürze haben sie das vollzogen, was sie in der westlichen Bundesrepublik schon lange vorher gemacht hatten. Überall, in West wie Ost, haben sie vorher erzählt, mit der Frühverrentung und Sozialhilfe müssen wir die Dinge überbrücken, und somit all dies als ganz normale Vorgänge dargstellt aus dem ein dauerhafter Zustand wurde. Sie haben selbst bei einem Teil der Sozialhilfeempfänger die Mentalität gezüchtet, die sie jetzt beklagen. Jetzt überraschen sie die Leute und wollen ihnen den Unterhalt wegnehmen. Jetzt stören sie sich da dran, daß sie Millionen haben, die sie aufgrund der Freisetzung mit unterstützen müssen. Es ist nicht die Schuld der Millionen, daß sie keine Arbeit haben. Es ist keine Arbeit da, weil man sie vorsätzlich liquidiert hat in diesem Land. Und dies erfolgte im vollen Bewußtsein, in Verbindung mit verschiedenen Kampagnen und der Losung, daß Produktion in diesem Land eh keine Zukunft hat, sondern man sich nur auf die Produktion von „Blaupausen“ konzentrieren müsse. Das war offizieller Tenor verschiedener Parteien über Jahrzehnte hinweg. Jetzt haben wir das Ergebnis. Im Grunde genommen will man die Millionen, die man als überflüssig betrachtet, loswerden. Und das zeigt die Programme und die Absichten dieser ach so humanen, von  „Menschenrechten“ geformten Parteien.

In der Freisetzung und Überflüssigmachung von Millionen von Menschen in diesem Land liegt Programm und Methode; mehr noch, darin liegen Verbrechen der Verantwortlichen in der Politik in diesem Lande. Deswegen ist der Widerstand absolut gerecht. Aber man muß auch die Vorsätzlichkeit und die Politik der Freisetzung, die über 30 Jahre lang hier, versteckt und offen, betrieben worden ist, in aller Öffentlichkeit rechten und den Widerstand dagegen richten. Es kann ja nicht sein, daß wir eine Bewegung haben, die die Arbeitslosigkeit und die Freisetzung akzeptiert, und sagt: Nun unterstützt uns mal bis ans Ende unserer Tage. Eine solche Bewegung ist mit Sicherheit zum Scheitern verurteilt. Sie würde die Extraprofite und Gewinne, die dieses Land im Ausland macht, akzeptieren und zur Grundlage des eigenen Unterhalts machen. Dies wäre selbst ein schweres Unrecht. Und Bewegungen, die selbst auf Unrecht stehen, können anderes Unrecht nicht bekämpfen.

Alle Verlagerungen konnte man mit Sicherheit nicht verhindern. Daß in anderen Ländern billiger produziert wird in einem weltweiten Globalisierungsprozeß, läßt sich nicht stoppen. Aber es gab genug hochentwickelte Produktionszweige, die bei Anwendung der fortschrittlichen Technik, niedrigen Energiepreisen und anderen günstigen Bedingungen eine Beschäftigung ermöglicht hätte, die weiterhin einen vergleichbaren Lebensstandard wie zuvor für zumindest einen sehr großen Teil ermöglicht hätte.

Bis jetzt jedenfalls setzen diese Parteien CDU/CSU, SPD, Grüne und Linkspartei die Politik der Liquidation fort, die in diesem Ausmaß und ihrem selbstzerstörerischen Wahn fast einmalig in der ganzen Welt ist. In keinem Land gab es eine derartig konzentrierte Deindustrialisierungskampagne, Anti-AKW-Kampagne und Kampagnen gegen Betriebe anderer Art. Wie z.B. gegen die Aluminiumbetriebe, die ganz bewußt liquidiert worden sind und von denen die Grünen gesagt haben, daß sie in diesem Lande keinen Platz mehr haben werden, und daß es normal sei, daß sie nach Osteuropa gehen usw. usf.. Man braucht sich doch nicht wundern, daß dies zu solchen Ergebnissen führt. Und dann kommen solche Lockfähnchen wie die der sogenannten erneuerbaren Energien, die heute schon ein bedeutender Exportfaktor seien und hier tatsächlich in bestimmten Regionen auch Industriearbeitsplätze garantieren würden. Ja, es gibt die sogenannten erneuerbare Energie-Produzenten. Aber für jeden Arbeitsplatz, der dort künstlich subventioniert eingerichtet wird, sind 5 oder vielleicht gar 10 andere in diesem Lande liquidiert worden. Deshalb ist das reiner Schein und Betrug, der in der öffentlichen Propaganda jeden Tag läuft. Diese Themen können nicht umgangen werden.

Vielmehr sind bei verschiedenen Organisatoren dieser Demonstrationen Sympathien für die Liquidatoren der hiesigen Produktion vorhanden, und sie spielen eine regelrechte doppelseitige Rolle.
Deshalb braucht man sich nicht zu wundern, daß die Sache in einer Sackgasse steckt und nicht herauskommt. Das Problem ist, daß man über wichtige Fragen  nicht diskutiert. Das Problem gab es schon im Jahre 2003, bei dem Beginn dieser Bewegung. Wer damals irgendwo anfing zu diskutieren über Probleme, wie es denn zu dieser Lage gekommen ist, der bekam zu hören: Wir wollen hier keine politischen und inhaltlichen Diskussionen, das könne vielleicht zur Spaltung führen. So kann keine Bewegung aufgezogen werden. Und das bestätigt sich in dem ganzen Trend, wie es heute abläuft.

Redaktion Neue Einheit
Hartmut Dicke

 

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